«Mit der Berichterstattung über Corona-Infektionen und Todesfälle wird praktisch täglich die Verbindung alt = krank hergestellt. Dies verstellt den Blick auf die Potenziale einer langlebigen Gesellschaft, denn die meisten Menschen, selbst wenn sie einmal krank sind, verfügen gleichzeitig über viele Fähigkeiten und leisten alltäglich Beiträge zu einer funktionierenden Gesellschaft.

Diverse Studien zeigen die Heterogenität des Alters und des Alterns. So sind beispielsweise die Unterschiede in der kognitiven Leistungsfähigkeit innerhalb der Gruppe von Personen im Alter von 80 Jahren wesentlich grösser als die mittleren Unterschiede zwischen 30- und 80-Jährigen. Die Fokussierung auf die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit für eine Erkrankung innerhalb einer Gruppe, die 20 Prozent der Bevölkerung ausmacht, wird der Gesamtheit der Altersphänomene nicht gerecht. Darüber hinaus wäre es wichtig zu wissen, welche Einzelpersonen gefährdet sind, denn offensichtlich gilt dies nur für den kleinsten Teil dieser Gruppe.

Die pauschale Empfehlung, ab 65 zuhause zu bleiben, ist diskriminierend. Wenn Firmen Arbeitnehmende oder Universitäten Studierende ins Home Office senden, dann steht diesen dort auch IT-Unterstützung zur Verfügung. Dagegen gab es kaum Massnahmen, die beispielsweise die bestehenden Bildungs- und Beteiligungsbedürfnisse älterer Menschen adressiert hätten.

Altersbilder hängen heutzutage stark davon ab, welche Daten über eine Altersgruppe verfügbar sind. Im Kindes- und Erwachsenenalter kann man recht einfach eine Vielzahl unterschiedlicher Datenquellen nutzen. Dort gibt es nicht nur Datensammlungen zu einzelnen Erkrankungen, sondern auch zu Entwicklungspotenzialen, Produktivität, Sozialverhalten und Mobilität. Dies trägt quasi automatisch dazu bei, dass man bei jüngeren Altersgruppen fast nie auf die Idee kommt, sie allein aufgrund ihres Erkrankungs- und Kostenrisikos zu analysieren. Dagegen fehlen solche leicht zugänglichen Daten über die Entwicklungspotenziale oder nicht krankheitsbezogene Eigenschaften für den grössten Teil der Personen im Alter ab 70 Jahren.

Das kann man an einem Beispiel sehen: Nachdem über Ostern die Personen der «gefährdeten Gruppe» in Zürcher Pflegeheimen auf das Corona-Virus getestet wurden, konnte auf der Basis wissenschaftlicher Evidenz das generelle Besuchsverbot gelockert werden. Diskriminierung hängt also oft mit einer schlechten Datenlage zusammen, auf deren Basis politische Entscheidungen getroffen werden.»
 

Dieser Artikel ist Teil der Serie «Werden Menschen über 65 diskriminiert?». Die Serie wurde im Rahmen der Corona Pandemie im Sommer 2020 publiziert.

 

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