«Ich denke, es macht Sinn, in der Corona-Pandemie die Altersgrenze bei 65 Jahren festzulegen. Bei uns ist 65 Jahre ein in den Köpfen fest verankerte und breit akzeptierte Altersgrenze. Zudem betrifft diese Altersgrenze die Erwerbsbevölkerung nicht. Das waren vermutlich die Überlegungen der Behörden. Es gilt zu berücksichtigen, dass man sehr rasch eingreifen musste und bis zum heutigen Tag nur wenig gesicherte Informationen hat, wie sich das Corona-Virus verbreitet. Es war ein Entscheid, der mit wenig Informationen rasch gefällt werden musste, allgemein verständlich ist und breit akzeptiert wird.

Natürlich kann man auch argumentieren, 65 Jahre sei eine willkürliche Altersgrenze. Eine kürzlich durch das BAG publizierte Statistik zeigt, dass fast die Hälfte der über 55-Jährigen in der Schweiz mindestens eine chronische Krankheit aufweist. Demnach wäre es richtig gewesen, alle über 55-Jährigen zur Risikogruppe zu zählen. Damit hätte man aber 50 Prozent unnötigerweise aus dem Verkehr gezogen.

Markus Leser, Leiter Fachbereich «Menschen im Alter» bei Curaviva, hat in einem Beitrag die Schwierigkeit der Entscheidungssituation in meinen Augen gut auf den Punkt gebracht. Er spricht in der aktuellen Situation von einem Dilemma zwischen Sicherheit und Freiheit, zwischen Selbstbestimmung und Sicherheit. Dieses Dilemma lässt sich nicht so einfach auflösen.

Soweit man das zum heutigen Zeitpunkt beurteilen kann, war der von der Schweiz gewählte Weg meiner Meinung nach insgesamt sinnvoll.

Auf der anderen Seite stellt sich schon die Frage, ob es sinnvoll ist, alle über 65-Jährigen in eine Kategorie von Gefährdeten einzuteilen. Diese Kategorie umfasst - sagen wir mal – die Altersspanne von 65 bis 110 Jahren. Das ist eine Altersspanne von rund 45 Jahren. Es käme wohl niemand auf die Idee, alle Menschen von 0 bis 45 Jahren in einer gemeinsamen Kategorie zu fassen. Hier zeigt sich, dass unsere Fixierung auf das kalendarische Alter nicht unproblematisch ist, weil nur bedingt aussagekräftig.

Insgesamt gilt es, weg zu kommen von der Fixierung auf das kalendarische Alter hin zu einer differenzierten Betrachtung des Alters. Wir haben ein biologisches Alter, aber wir haben auch ein soziales Alter. Und man weiss, dass das soziale Alter den grössten Einfluss auf die Gesundheit und die Abwehrkräfte hat.

Eine differenzierte Altersbetrachtung lässt sich im Gesundheitsbereich gut anwenden. Aus administrativer Sicht ist das aber nur schwer umsetzbar. Im Idealfall hätte man alle Menschen mit Vorerkrankungen ungeachtet ihres kalendarischen Alters zur gefährdeten Gruppe gezählt. Dafür brauchte man aber ein Gesundheitsprofil, das wir nicht haben. Und es wäre unmöglich gewesen, acht bis neun Millionen Menschen einem allgemeinen Gesundheitscheck zu unterziehen. Darum scheint mir in der Corona-Pandemie der Rückgriff auf das administrative Alter von 65 Jahren gerechtfertigt.

Ein möglicher Nebeneffekt der Ü65-Risikogruppen-Politik könnte sein, dass sich in der Allgemeinheit ein negatives Stereotyp gegenüber den über 65-Jährigen in den Köpfen festsetzt. Mit der Kampagne wurde wiederholt und flächendeckend ein Bild verbreitet von Menschen über 65 Jahren, die besonders verletzlich und hilfsbedürftig sind.

Aber eine allgemeine Altersdiskriminierung kann ich nicht feststellen. Ich beobachte eher, dass sich das Altersbild der über 65-Jährigen in den letzten Jahren im positiven Sinne gewandelt hat. Inzwischen sieht man auch Werbung mit Menschen über 65 Jahren. Und sie gelten allgemein als aktiv und fit.»

 

Dieser Artikel ist Teil der Serie «Werden Menschen über 65 diskriminiert?». Die Serie wurde im Rahmen der Corona Pandemie im Sommer 2020 publiziert.

 

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