«Der Entscheid, Menschen über 65 Jahren pauschal zur Risikogruppe zu zählen, greift auf einen sozialpolitischen Altersbegriff zurück – das Rentenalter der Männer in der Schweiz liegt bekanntlich bei 65 Jahren. Diese sozialpolitische Altersgrenze wird nun auf eine epidemiologische Altersgrenze übertragen, was natürlich im Grunde genommen ein Fehlschluss ist. Das ist etwa so, als würde man sagen, weil Frauen ein kleineres Gehirn haben als Männer, seien sie weniger intelligent. Man kann aus einer sozialpolitischen Altersgrenze keine epidemiologische Grenze ableiten.

Pauschal alle Menschen über 65 Jahren zur besonders gefährdeten Gruppe zu bezeichnen, ist eigentlich ein Rückfall in Altersdefinitionen aus den 1970er-Jahren. Man kann argumentieren, aus pragmatischen Gründen hätte man irgendeine Altersgrenze setzen müssen. 65 Jahre ist aber eine absolut willkürliche Altersgrenze. Man hätte genauso gut sagen können, ab 64 Jahren ist man einem erhöhten Risiko ausgesetzt, weil die Frauen im Alter von 64 Jahren pensioniert werden. Oder mit 63.5 Jahren. Auch Grosseltern wurden übrigens pauschal zur Risikogruppe gezählt. Obwohl die Mehrheit der Grosseltern bei der Geburt des ersten Enkelkindes deutlich jünger sind als 65.

Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse aus der Geriatrie und der Gerontologie nicht berücksichtigt. Und mit der Ü65-Risikopolitik ein eindeutig defizitorientiertes Altersbild transportiert, das schon lange nicht mehr der Realität entspricht.

Bezeichnenderweise haben sich vor allem die aktiven, «jungen Alten» an der Ü65-Risikogruppen-Politik gestört. Von Hochaltrigen gab es dagegen wenig Protest. Die so genannt jungen Alten zwischen 65 und 79 Jahren sind erwiesenermassen gesünder und biologisch jünger als die gleiche Altersgruppe früherer Generationen.

Das Risiko im Rahmen der Pandemie zu erkranken ist zwar höher für Menschen im Rentenalter, aber das Risiko von der Krise längerfristig betroffen zu sein, betrifft vor allem die Jüngeren. Das ist jetzt eine Art Gegenläufigkeit zwischen epidemiologischen, krankheitsbedingten Risiken der Pandemie und wirtschafts- und finanzpolitischen Risiken. Das wird uns noch stark und länger beschäftigen.

Die familialen Generationenbeziehungen, also die Solidarität zwischen den Generationen innerhalb einer Familie, sind eher gestärkt worden in der Krise. Ebenso wurden ausserfamiliale Generationenbeziehungen im Bereich der Nachbarschaftshilfe gestärkt. Jüngere gingen beispielsweise für ältere Menschen einkaufen. Die Menschen in einer Nachbarschaft begegneten sich wieder. Da gab es positive Auswirkungen der Krise auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Sozialpolitisch wird es aber nun die grossen Generationendiskurse geben. Die Schulden, die der Staat jetzt macht, gehen natürlich auf Kosten der künftigen Generationen. Die Klimajugend ist auch nicht zufrieden, weil man Flugzeugfirmen unterstützt, ohne dass diese einen Beitrag zum Erreichen der Klimaziele leisten müssen. Da zeichnet sich ein Generationenkonflikt ab. Zwischen jenen der älteren Generationen, die zurück zur Normalität und weitermachen wollen wie bisher. Und einem Teil der Jugend, welche die Krise als Chance nutzen will, um unsere Gesellschaft zum Besseren zu verändern. Zudem werden die wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise in den meisten Ländern viel dramatischer sein als die Auswirkungen des Virus. Und die wirtschaftliche Krise, die betrifft vor allem die jüngeren Generationen. Während die Menschen im Rentenalter mit der AHV quasi über ein bedingungsloses Grundeinkommen verfügen, das von der Krise unberührt bleibt.

Familial werden sich die Generationenbeziehungen verbessern, lokal auch – sozialpolitisch werden dagegen vermehrt konfliktreiche Generationendiskurse stattfinden.»
 

Dieser Artikel ist Teil der Serie «Werden Menschen über 65 diskriminiert?». Die Serie wurde im Rahmen der Corona Pandemie im Sommer 2020 publiziert.

 

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