«Aus gerontologischer Perspektive ist es nicht vertretbar, Menschen ab 65 pauschal zur Risikogruppe zu zählen. 65 ist eine künstlich festgesetzte Grenze, die für die AHV eingeführt wurde. Dabei werden die Individualität und die Variabilität der Menschen im Alter überhaupt nicht berücksichtigt.

Jedoch scheint es aus medizinischer Sicht tatsächlich so zu sein, dass ältere Menschen aufgrund des veränderten Immunsystems ein höheres Risiko für einen schweren Verlauf einer Covid-Erkrankung haben. Hier ist bei den Kampagnen und Kommunikation möglicherweise ein grosser Fehler passiert: Man hätte diesen Unterschied herausheben müssen, anstatt zu pauschalisieren und alle Alten als multimorbide und gefährdet zu bezeichnen. Diese Aussage hat die ganzen Bemühungen der Alterswissenschaften, die Diversität des Alters aufzuzeigen, zunichtegemacht. Die Forschung konnte in den letzten Jahren nämlich zeigen, dass das Alter vielfältig ist. Man ist ja nicht ab 65 bis 100 eine homogene Gruppe. Ein 70-Jähriger, der vermeintlich zu einer Risikogruppe gehört, ist möglicherweise gesünder und fitter als mancher 50-Jährige.

Indem alle älteren Menschen als krank, vulnerabel und schützenswert gelabelt wurden, hat man ihnen ihre Kompetenzen und ihre Mündigkeit abgesprochen. Es hiess, ihr sollt einfach zuhause bleiben, wir sorgen schon dafür, dass alles wieder gut kommt. Dadurch ist eine Zweiklassengesellschaft entstanden aus den jungen Kompetenten und den alten Unterstützungsbedürftigen.

Mit dem langen Andauern der Massnahmen wurde zudem immer mehr Stimmen laut, dass die Jungen nun aufgrund der Alten auf Vieles verzichten müssen. Denn die Jungen hätten ja nichts zu befürchten. Das ist wieder nicht ganz korrekt. Neusten Zahlen zeigen, dass diejenigen Patienten, die mit einem schweren Verlauf auf der Intensivstation behandelt werden müssen, zwischen 45 und 60 sind. Es stimmt also nicht, dass die Jungen Opfer bringen, für diejenigen, die ohnehin schon am Ende ihres Lebens sind.

In meinen Beratungen habe ich ausserdem erlebt, dass die Massnahmen des social bzw. physical Distancing ältere Menschen, die ohnehin schon weniger Körperkontakt haben, besonders hart getroffen haben. Wenn das Umfeld sich dann auch noch zurückzieht, ist das für sie gravierend. Durch Rationalisierung verstehen sie schon, dass ihre Kinder oder ihre Bekannten sie nur schützen wollen. Das ist aber erst der zweite Schritt. Emotional fühlen sie sich geächtet und ausgegrenzt. Wenn wir nicht wollen, dass dies langfristig Folgen für die psychische Gesundheit älterer Menschen hat, müssen wir unser soziales Miteinander schnellstmöglich korrigieren.»

 

Dieser Artikel ist Teil der Serie «Werden Menschen über 65 diskriminiert?». Die Serie wurde im Rahmen der Corona Pandemie im Sommer 2020 publiziert.

 

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