Erwachsene bezahlen für das SBB-Generalabonnement einen regulären Preis von 3860 Franken. Seniorinnen ab 64 und Senioren ab 65 Jahren erhalten die universelle Zugfahrkarte fast 1000 Franken billiger: Sie zahlen 2880 Franken.
Der reduzierte Bahnpreis ist nicht der einzige Rabatt, den ältere Menschen erhalten. Viele Kultureinrichtungen gewähren ebenfalls verbilligten Eintritt. Sie gehen davon aus, dass Pensionierte wenig Geld zur Verfügung haben.
Aber stimmt dieses Bild wirklich? Steigt das Armutsrisiko in der Schweiz tatsächlich mit dem Lebensalter?
Dem gehen wir in diesem Beitrag nach. Der Fokus liegt diesmal, anders als in früheren Beiträgen zur Ungleichheit, auf dem unteren Teil der Verteilung.
Einkommen
Wir starten mit dem Einkommen. Und zwar, um es präzis auszudrücken: mit dem äquivalenzgewichteten, verfügbaren Haushaltseinkommen. Dieses ist rechnerisch an die Haushaltsgrösse angepasst, nach Abzug von Steuern.
Dieses Einkommen steigt übers Erwerbsalter (abgesehen von einem Knick Anfang 30, wenn viele eine Familie gründen) kontinuierlich an – von durchschnittlich knapp 40’000 Franken pro Jahr für die Gruppe der 21- bis 25-Jährigen auf über 57’000 Franken für die Gruppe der 56- bis 60-Jährigen.
Kurz vor der Pensionierung sind die Haushaltseinkommen also am höchsten. Grund dafür ist der typische Lohnanstieg, der sich mit dem Alter einstellt.

Ab 60 Jahren sinkt das mittlere Einkommen, da sich immer mehr Personen vom Arbeitsmarkt zurückziehen. Bei den 66- bis 70-Jährigen unterschreitet es zunächst den Medianwert der Gesamtbevölkerung, ab 76 Jahren fällt es mit 42’000 Franken schliesslich wieder auf das Niveau der jüngsten Gruppe.
Während bei der Ü-50-Personengruppe entgegen oft geäusserten Klagen noch kein Einbruch zu verzeichnen ist – das Sozialhilferisiko ist zwischen 56 und 64 Jahren nach wie vor geringer als bei jüngeren Personen –, markiert das Rentenalter also tatsächlich eine Zäsur. Ab dann sinken die Einkommen.
Materiellen Wohlstand allein anhand des Einkommens zu messen, ist aber problematisch – insbesondere für die Älteren. Denn fast ein Drittel der Rentner beziehen ihr Guthaben in der 2. Säule als Kapital: Sie haben in der Folge zwar ein geringes Einkommen, aber dafür ein stattliches Vermögen.
Für ein besseres Bild müssen wir deshalb auch die Vermögen betrachten.
Vermögen
Ähnlich wie die Einkommen steigen auch die Vermögen im Laufe des Erwerbslebens an. Die Unterschiede zwischen den Altersgruppen sind jedoch viel ausgeprägter: Zwischen Minimum und Maximum liegt ein Faktor von 15 – zehnmal mehr als zwischen tiefsten und höchsten Einkommen.

Besonders vom 50. Lebensjahr bis zur Pensionierung nimmt das Vermögen sprunghaft zu. Verschiedene Gründe sind dafür verantwortlich:
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Erbschaften sind in diesem Alter am häufigsten.
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Viele lassen sich ihre Pensionskassenguthaben auszahlen.
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In dieser Altersspanne kann am meisten gespart werden, da die Einkommen am höchsten sind und die Ausgaben für Kinder abnehmen.
Doch nicht nur kurz vor der Pensionierung, sondern auch in den 5 Jahren danach geben gemäss dem Schweizer Haushalt-Panel fast die Hälfte der Personen an, dass sie Geld zur Seite legen können, während nur etwa jeder Fünfte von seinem Vermögen zehrt. Das mittlere Vermögen steigt also auch nach der Pensionierung an – es nimmt sogar bis etwa 75 Jahre weiter zu.
Dieses Resultat ist bemerkenswert, weil es der üblichen Lebenszyklusthese widerspricht, nach der das Vermögen in der Erwerbsphase angespart und nach der Pensionierung aufgebraucht wird. Diese These bewahrheitet sich zum Beispiel in Deutschland. In der Schweiz hingegen häufen viele Personen mehr Vermögen an, als sie bis an ihr Lebensende brauchen. Wenn wir die Pensionskassenguthaben zum Vermögen rechnen, ist der Reichtum in der Schweiz demnach besonders stark auf ältere Menschen konzentriert.
Allerdings besitzen nicht alle Seniorinnen ein grosses Vermögen. Deshalb müssen wir uns auch mit der Verteilung des Wohlstands beschäftigen.
Ungleichheit
Als Indikator für die Ungleichheit verwenden wir eine Zahl, die den Fokus auf den unteren Teil der Verteilung richtet: die relative Armutsquote.
Sie ist ein Mass für die Armutsgefährdung und je nach Kategorie unterschiedlich definiert:
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Beim Einkommen werden alle Haushalte, die weniger als 60 Prozent des Medians verdienen, als armutsgefährdet klassiert. Dieses Vorgehen ist in den Sozialwissenschaften und in der öffentlichen Statistik weitverbreitet. 2015 lag die so berechnete Armutsgrenze bei gut 30’000 Franken pro Jahr und Person im Haushalt.
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Beim Vermögen gibt es keinen etablierten Standard. Wir betrachten hier Haushalte als arm, wenn ihr Erspartes nicht reicht, um ein halbes Jahr über der Einkommens-Armutsgrenze zu überleben. Das heisst, Haushalte mit weniger als 15’000 Franken mobilem Vermögen pro Person gelten als arm.
Zunächst zum ersten Kriterium, der Einkommensarmut. Welcher Anteil der Bevölkerung je nach Alter davon betroffen ist, zeigt die folgende Abbildung:

Man sieht, dass die Einkommens-Armutsquote bei den Älteren am höchsten ist. Die über 70-Jährigen sind mit 24 Prozent also am häufigsten von Armut gefährdet. Am geringsten ist die relative Einkommensarmut kurz vor dem Pensionsalter, zwischen 51 und 60 Jahren, mit einer Quote von 10 Prozent.
Genau umgekehrt ist es beim Vermögen. Hier nimmt die Armutsquote mit zunehmendem Alter ab: Während bei den Jüngsten noch etwa die Hälfte unter die Grenze fällt, ist es bei den über 70-Jährigen weniger als ein Viertel.

Je nachdem, ob die Armut also anhand von Einkommen oder Vermögen gemessen wird, erscheinen Jüngere oder Ältere als besonders betroffen.
Was tun?
Ein naheliegender Ansatz wird in der Armutsforschung verfolgt: Haushalte werden dann als arm bezeichnet, wenn sie sowohl beim Einkommen unter der Armutsgrenze liegen (weniger als 30’000 Franken), als auch weniger als 15’000 Franken liquides Vermögen pro Person besitzen.
Wie die so kombinierte Armutsquote aussieht, zeigt die folgende Abbildung:

Zwei Veränderungen fallen auf:
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Der Gesamtschnitt ist tiefer: Galten über alle Altersgruppen hinweg noch 15 Prozent als einkommens- und 44 Prozent als vermögensarm, so liegt die kombinierte Armutsquote insgesamt noch bei rund 10 Prozent. Das ist statistisch gesehen logisch, weil neu zwei Kriterien statt einem gelten.
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Der Altersverlauf verändert sich: Nicht mehr die 51- bis 60-Jährigen, sondern die 61- bis 70-Jährigen weisen nun die niedrigste Armutsquote auf. Personen bis 40 Jahre sind im Vergleich zu dieser Gruppe doppelt so stark armutsgefährdet. Bei den über 70-Jährigen liegt die Armutsquote dagegen ziemlich genau im gesamten Bevölkerungsschnitt.
Und damit zurück zur Eingangsfrage: Sind Senioren einem höheren Armutsrisiko ausgesetzt?
Fazit
Die Analyse hat drei Erkenntnisse zutage gefördert:
- Das Vermögen in der Schweiz ist bei älteren Altersgruppen konzentriert und steigt auch nach dem Rentenalter weiter an.
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Ein Problem für Ältere ist höchstens die Einkommensarmut – von der Vermögensarmut sind die Jüngeren dagegen viel mehr betroffen.
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Viele ältere Personen sind armutsgefährdet. Insgesamt sind aber Personen im Rentenalter keinem überdurchschnittlichen Armutsrisiko ausgesetzt.
Dies kontrastiert mit der Idee der «armen Alten», die vielerorts vorherrscht. Und es wirft Fragen im Hinblick auf anstehende Rentenreformen auf: Eine Erhöhung von Renten nach dem Giesskannenprinzip könnte etwa dazu führen, dass Ressourcen von unten nach oben umverteilt werden – von ärmeren Erwerbstätigen zu verhältnismässig reicheren Rentnerhaushalten.
Gleichzeitig darf man nicht vergessen, dass Armut im Alter besonders schwerwiegend ist. Während Armut bei Jüngeren – und speziell bei Studierenden – oft vorübergehend ist, bestehen nach dem Rentenalter kaum noch Möglichkeiten, die materielle Situation zu verbessern. Deshalb ist bei der Rentenpolitik auch künftig wichtig, auf die soziale Abfederung zu achten.
Der Originalbeitrag wurde am 10. Februar 2020 in der Republik veröffentlicht.