«Ich habe mich bereits mehrfach in den Medien geäussert, dass es aus wissenschaftlicher Sicht nicht gerechtfertigt ist, alle über 65-Jährigen pauschal zur Risikogruppe zu zählen. Ich habe Verständnis dafür, dass die Expertinnen und Experten zu Beginn der Corona-Pandemie überrascht waren und schnell handeln mussten. Aus dieser Perspektive kann ich den Entscheid nachvollziehen, im ersten Moment alle Seniorinnen und Senioren ab 65 Jahren zur vulnerablen Gruppe zu zählen. Allerdings zeigten dann erste Statistiken, dass vor allem über 80-Jährige einen schweren Krankheitsverlauf hatten – was Altersforscherinnen und Altersforscher nicht überraschte. Es wäre meines Erachtens wichtig gewesen, die politischen Massnahmen diesen Erkenntnissen entsprechend zu korrigieren. Und dies aus drei Gründen.
Erstens unterscheidet man in der Gerontologie und der Geriatrie schon länger zwischen dem «jungen Alter» zwischen 65 und 79 Jahren und dem «hohen Alter» ab 80 Jahren. Ab 80 Jahren zeigt sich im Durchschnitt eine ganz andere Qualität des Alters. Ab 80 nimmt die Multimorbidität – also die Mehrfacherkrankung – zu. Es ist ein ganz anderes Alter als das junge Alter. In den letzten Jahrzehnten verzeichnen wir eine bedeutsame Verjüngung des Alters. Das hat nichts mit Schönheit oder jugendlichem Aussehen zu tun, sondern mit der Tatsache, dass wir nicht nur länger Leben, sondern auch länger gesund bleiben. Die «jungen Alten» sind besser gebildet und insgesamt unter besseren Lebensbedingungen alt geworden als frühere Generationen. Sie bleiben länger gesund und «jung», biologisch gesehen. Das spiegelt sich auch in den Statistiken der am Corona-Virus erkrankten Menschen. Dort zeigt sich, dass Frauen zwischen 65 und 80 Jahren eine signifikant tiefere Erkrankungsrate haben als jüngere Frauen. Diese Statistiken hätte die Verantwortlichen meines Erachtens wach werden lassen sollen.
Ein zweiter Grund, warum es wichtig gewesen wäre, die Massnahmen zu korrigieren, betrifft die Freiwilligenarbeit. Durch die Massnahmen wurde die Gruppe der 65 bis 80-Jährigen quasi stillgelegt. Und damit jene Altersgruppe, die am meisten informelle Freiwilligenarbeit leistet. Dies hat psychosoziale Kollateralschäden verursacht. Wenn man den jungen Alten sagt, du darfst nicht ins Spital, ins Altersheim und so weiter helfen gehen, weil du zur Risikogruppe gehörst, zieht das einen grossen Rattenschwanz mit negativen Konsequenzen nach sich. Vergessen wir dabei auch nicht die Grosseltern, die verhindert wurden, ihre Enkelkinder zu betreuen. Das war nicht nur zu ihrem eigenen Nachteil, sondern auch zum Nachteil ihrer Kinder, die einem erhöhten Stress ausgesetzt waren, mit Homeoffice und Kinderbetreuung.
Drittens wurde mit diesen Massnahmen ein Altersbild zementiert, das längst nicht mehr der Realität entspricht. Die Tatsache, dass man alle älteren Menschen ab 65 Jahren in einen Topf wirft, führt dazu, dass Menschen ab 65 Jahren pauschal als alt, krank und hilflos wahrgenommen werden – und damit als gesellschaftliche Last. Das ist ein Bild, das mich sehr besorgt, weil es die Altersdiskriminierung fördert und die Generationenbeziehungen belastet.
Die Corona-Krise hat gezeigt, wie viel Unwissen und welch undifferenziertes Bild über ältere Menschen in der Gesellschaft weiterhin vorherrscht.»
Dieser Artikel ist Teil der Serie «Werden Menschen über 65 diskriminiert?». Die Serie wurde im Rahmen der Corona Pandemie im Sommer 2020 publiziert.