Herr Welzer, Sie sprechen im Generationenhaus in Bern über eine bessere Zukunft. Was macht Ihnen Sorgen?

Schauen Sie sich die vielfältigen Probleme an, die wir haben: Klimawandel, Artensterben, knapper werdende Ressourcen, eine Wirtschaftsform, die ihre eigenen Voraussetzungen konsumiert, weil es auf einem endlichen Planeten nicht unendliche Ressourcen gibt. So, wie wir jetzt leben, kommen wir nicht durch dieses Jahrhundert.

Sie wollen eine «enkeltaugliche» Zukunft. Was heisst das?

Wir brauchen vor allem eine Wirtschaftsform, die nicht zerstörerisch ist. Die spannende Frage ist, ob der Kapitalismus Frieden schliessen kann mit der Natur. Ob er als Kreislaufwirtschaft funktionieren kann und als Ökonomie, die sich am Gemeinwohl orientiert.

Kann er das?

Das ist eine offene Frage. Aber wir sind doch eine intelligente, kreative Gesellschaft. Und der Kapitalismus ist die geschmeidigste Wirtschaftsform, die wir bislang kennen. Warum sollte er nicht so reformierbar sein, dass die Übernutzung von Ressourcen aufhört? Ich wüsste auch keine Alternative. Die bisherigen Experimente mit anderen Systemen haben alle nicht funktioniert - und sie hatten teilweise furchtbare Folgen.

Gibt es überhaupt genügend Leute, die einen grundlegenden Wandel wollen? Vielen geht es doch ganz gut so, wie es jetzt ist.

Es stimmt, viele in Westeuropa haben keine grosse Motivation, etwas an ihrem Lebensstil zu verändern. Aber wer Kinder hat, ist vielleicht doch interessiert daran. Die Probleme fallen uns ja jetzt schon auf die Füsse. Beim Klimawandel dachte eine Mehrheit bis vor kurzem: Ach, das dauert ja noch 100 Jahre, und bis dahin hat man schon lange etwas erfunden. Jetzt hatten wir diesen Sommer in Deutschland ein Extremwetter-Ereignis mit 200 Toten. Da konnten wir sehen, dass die Probleme nicht erst in ferner Zukunft auftauchen werden.

Es scheint schwierig, gemeinsam eine Lösung zu finden. Seit der Corona-Pandemie spaltet sich die Gesellschaft immer mehr.

Ich mag den Begriff «Spaltung» nicht. Das klingt nach einem Holzscheit, das man in der Mitte spaltet. Wir haben nicht zwei grosse Blöcke, die einander gegenüberstehen, sondern Minderheiten, die eine soziale Haltung verwehren, und die Mehrheit. So jedenfalls ist das Verhältnis zwischen Impfgegnern und Impfbefürwortern.

Trotzdem: Der Ton wird stets aggressiver.

Ja, der ist unangenehm. Es gab in den vergangenen Jahren geradezu eine Entzivilisierung in Debatten.

Das liegt auch daran, dass man sich nicht einmal mehr auf bestimmte Fakten einigen kann. Wie soll man da noch miteinander reden können?

Keine Ahnung.

Das klingt jetzt aber nicht sehr ermutigend.

Schauen Sie in die USA: Dort gibt es tatsächlich eine gespaltene Gesellschaft mit zwei etwa gleich grossen Lagern. Man kann dort auch sehen, wie schwierig es ist, nach der Ära Trump zurück zur Vernunft zu kommen. Das hat auch etwas mit den neuen Direktmedien zu tun, die förderlich für Verschwörungsglauben sind. Und weil sie relativ neu sind, gibt es bislang kein Rezept dafür, wie man wieder eine gemeinsame Ausgangsposition findet. Man kann den Leuten nicht verbieten, das Falsche zu denken.

Es gibt also keine Lösung?

Ich bin trotz allem optimistisch. Aber hoffen allein reicht nicht. Wenn man das Glück hat, in einer Demokratie zu leben, muss man auch für sie kämpfen, indem man mitdiskutiert und mitgestaltet.

Historisch betrachtet geht es uns gesundheitlich und materiell so gut wie noch nie. Wieso fühlen sich viele trotzdem latent unzufrieden?

Der Grund dafür ist, dass man keinen Referenzpunkt hat. Man lebt so vor sich hin und denkt, das ist jetzt der Normalzustand. Wenn mal ein Anspruch nicht erfüllt wird, fängt man sofort an zu meckern. Das geht so weit, dass manche Leute nicht einmal mehr dankbar sind, wenn sie von einem Sanitäter oder Arzt gerettet werden. Sie beschweren sich hinterher nur, dass ihnen das Essen im Spital nicht geschmeckt habe. Sie sind sich nicht bewusst, dass der heutige Lebensstandard mühsam erkämpft wurde. Und eigentlich können wir ihn uns gar nicht leisten. Denn er geht auf Kosten derjenigen, die jetzt geboren werden oder noch junge Menschen sind.

Was braucht es, damit sich etwas ändert?

Ein entscheidender Punkt ist, dass wir falsch sprechen über Themen wie Klimawandel und Umweltprobleme - als wären die Betroffenen die Tiere oder die Ozeane. Dabei sind wir die Betroffenen. In einem zu warmen Klima können wir nicht überleben. Und in einer Welt mit vielen Umweltkatastrophen können wir unseren Wohlstand nicht aufrechterhalten. Darüber müssen wir reden.

Alles in allem: Werden wir eine enkeltaugliche Zukunft haben?

Natürlich.

Weil wir gar keine andere Wahl haben?

Ja. Kein Mensch, der Kinder hat oder sich selber ernst nimmt, würde sagen: Das kriegen wir nicht hin. Das wäre ja das grösste Versagen in 200'000 Jahren Menschheitsgeschichte. Es handelt sich um eine Frage der Selbstachtung.
 


Das Gespräch erschien am 8. September in der «Berner Zeitung».

Der Deutsche Harald Welzer (63) ist Soziologe und Sozialpsychologe sowie Direktor der Stiftung Futurzwei in Berlin. Er lehrt Transformationsdesign an der Europa-Universität Flensburg und Sozialpsychologie an der Universität St. Gallen. Am 10. September hielt Harald Welzer unter dem Titel "Alles könnte anders sein" eine Rede zur Lage der Generationen.
 

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