Habe ich als alter weisser Mann noch eine Chance?

Die Bezeichnung «alter weisser Mann» ist schwierig, weil Menschen nicht aufgrund von Alter, Geschlecht oder Hautfarbe diskriminiert werden sollten. Ursprünglich war das ja auch eine satirische Formulierung, die sich schliesslich aber breit durchgesetzt hat.

Der Begriff wird aber auch als Kampfbegriff verwendet.

Interessant daran ist der Perspektivenwechsel. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit können alte weisse Männer physisch empfinden, was es in einem Diskurs heisst, «der andere» zu sein. Ich hoffe aber, dass wir den Begriff in ein paar Jahren nicht mehr brauchen. Wenn wir den Begriff «weiblich» von den gängigen Zuschreibungen befreien wollen, müssen wir dasselbe auch mit «männlich» machen.

Was ist mit der Kategorie «weiss»? Kann man die loswerden?

Der Begriff «weiss» muss in einem menschlichen Sinn umgedeutet werden wie dies einst mit «schwarz» im Sinne von «black is beautiful» geschehen ist. «Weiss» wurde erstmals als «white supremacy» formuliert, um den transatlantischen Sklavenhandel mit Menschen anderer Hautfarbe zu rechtfertigen. Zuvor haben sich Weisse nicht über ihre Hautfarbe definiert, sondern über ihren Landbesitz oder ihre Sprache.

 

«Wenn wir erst mal alt genug sind, werden wir alle diskriminiert werden.»

 

Die Kategorie «alt» kann man aber kaum umdeuten. Trans-age muss wohl erst noch erfunden werden?

Nein. Es gibt eine Bewegung, die sich dagegen wehrt, aufgrund des Alters festgelegt zu werden. Auch das Alter ist fluider, als man denkt. Was ist Alter? Sind das die Jahre, die wir auf der Welt sind? Einige Biologen sagen, man könne unterschiedliche Altersmarken an verschiedenen Körperstellen messen. Aber keine Sorge: Wenn wir erst mal alt genug sind, werden wir alle diskriminiert werden. Da müssen wir uns keine Sorge machen.

Die Hauptfigur in Ihrem Roman «Identitti» ist eine weisse Professorin, die sich als Person of Color (PoC) ausgibt und entlarvt wird. Passiert das meist nicht eher umgekehrt?

Das können wir uns tatsächlich kaum vorstellen, obwohl es dies schon immer gegeben hat. Im Buch wird es zum Skandal, weil die Hauptfigur ihr Passing im stillen Kämmerlein beschliesst und geheim hält. Ihre PoC-Studentinnen werfen ihr nach der Entlarvung zu Recht vor, sie habe sich ihre kulturelle Identität angeeignet. Denn Identität ist ein Aushandlungsprozess mit der Umwelt.

Warum ist der Begriff «kulturelle Aneignung» negativ konnotiert?

Dabei ging es ursprünglich um Kunstwerke in unseren Museen, die einst gestohlen wurden und längst zurückgegeben werden müssten. Aber kann man sich auch etwas Nicht-Materielles wie einen Musikstil oder eine Identität aneignen? Da ist die Sachlage nicht so eindeutig. Kultur ist immer ein Sich-Hineinversetzen in andere, das in den meisten Fällen legitim ist. Aber es gibt eben auch Machtstrukturen, die erklären, warum kulturelle Aneignung meist nur in die eine Richtung funktioniert.

Haben Sie ein Beispiel dafür?

Im 1921 gedrehten Film «Das indische Grabmal» nach einem Drehbuch von Fritz Lang werden die indischen Rollen von weissen deutschen Schauspielern gespielt, die Brownfacing gemacht haben. Das sieht heute absurd aus. Damals fiel es aber niemandem auf. Man ging davon aus, dass Inder sich selber nicht authentisch genug spielen können. Weissen hingegen traute man alles zu, weil Weiss-Sein als universell galt. Das kenne ich auch aus anderen Debatten, zum Beispiel bei Übersetzungen. 

Sie meinen den Übersetzungsstreit um die schwarze Lyrikerin Amanda Gorman, die an der Amtseinsetzung von US-Präsident Joe Biden las?

Genau. Die Medien vermittelten den Eindruck, es gehe darum, dass Weisse Gormans Gedichte nicht übersetzen könnten. Es hat aber niemand gefordert, dass nur Schwarze Schwarze übersetzen können. Es ging darum, dass ein grosser Übersetzerauftrag automatisch an eine weisse Person vergeben wurde. Es ging um die Verteilung von Ressourcen. Es war eine Debatte über kapitalistische Strukturen.

Dabei reden alle von Identität und kaum mehr von Klasse.

Ich kenne nur Leute, die auch von Klasse sprechen, wenn sie über Identität reden. Aber ja, Klasse als Kategorie ist im gesellschaftlichen Diskurs in den Hintergrund getreten. Das hat mit dem Ende des sogenannten real existierenden Sozialismus zu tun. Solange es ein Gegensystem gab, war es einfacher, über Klasse zu reden

Rassismus stirbt nicht aus. Warum spricht man von «race» und weniger von Rassismus?

Ich spreche von «race», weil es um mehr geht als bloss die Erfahrung von Rassismus. Es geht nicht nur um eine Opferidentität, sondern auch um Dazugehörigkeit. Auch wenn wir alle Diskriminierungen loswürden, lebten wir immer noch nicht in einer perfekten Welt. Um eine politische Utopie real werden zu lassen, muss man auch über die Gestaltung der Welt reden.

Ist die «Race»-Debatte nicht ambivalent? Man schafft rassistische Kategorien ab und kreiert neue, die wiederum Menschen ausschliessen.

Ich bezeichne mich als Person of Color. Im Moment ist das der beste Begriff, auch wenn er unbefriedigend ist. Er hat den Vorteil, dass es eine Selbstbezeichnung ist. Aber gleichzeitig ist der Begriff auch schräg. «Menschen von Farbe», was soll das denn sein? Ich gehe davon aus, dass der Begriff in fünf Jahren nicht mehr verwendet wird. Aber es gibt einfach kein Wort für Menschen wie mich. Als ich auf die Welt kam, galt ich als «Ausländerin». Dann kam «Gastarbeiterin», «Mensch mit Migrationshintergrund». Mein Mann hat sogar einen Migrationsvordergrund als Engländer. Aber er wird im Unterschied zu mir nie gefragt, wo er herkommt.

Was wäre der richtige Begriff für eine postmigrantische Identität?

Alle Begriffe sind schwierig, denn sie müssen sowohl auf die Diskriminierungsgeschichte als auch auf die Utopie verweisen. Wenn nur auf die Diskriminierungsgeschichte verwiesen wird, wird diese festgeschrieben. Wenn nur die Utopie anklingt, wird so getan, als gäbe es keine Probleme.

Die Utopie wäre doch, dass alle als Menschen angesprochen werden.

Ja, das wäre die Utopie. Aber ich habe einmal «deutsche Menschen» gegoogelt. Da kamen Weisse, Weisse und nochmals Weisse und irgendwann kam Donald Trump. Es dauerte lange, bis erste Bilder von Nicht-Weissen kamen. Wenn wir in Deutschland von Menschen reden, sind Leute wie ich zwar mitgemeint, aber nicht mitgedacht. Es geht darum, die Identität Mensch zu erweitern, um Menschen wie mich mitdenkbar zu machen. Sobald sich unsere Vorstellung von Mensch verändert, brauchen wir auch keine neuen Kategorien mehr, die für Diversität stehen.

 

«Das erste deutsche KZ war auf der Haifischinsel im heutigen Namibia.»

 

Laut dem Philosophen Kwame Appiah werden wir Identitäten aber kaum los.

Ja, es scheint ein Grundbedürfnis des Menschen zu sein, andere einzuordnen. Daher sagt Appiah auch, dass wir uns Mühe geben sollten, neue Identitäten offen und durchlässig zu kreieren.

Das wäre auch die Abgrenzung zum Identitätsbegriff der Rechten in Deutschland, die einheimisches Liedgut in den Schulen fördern möchte?

Die Nationalisten im 19. Jahrhundert haben in Liedern und Märchen die Fiktion reinprojiziert, dass sich darin die nationale Seele manifestiere. Dabei ist Folklore viel diverser. Die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten hat dem eine Ende gesetzt. So weiss wie in den Fünfzigerjahren war Deutschland weder davor noch danach. Daher geht es heute darum, die Erinnerungskultur diverser zu gestalten, indem etwa der deutsche Kolonialismus zum Thema gemacht wird. Das erste deutsche KZ war auf der Haifischinsel im heutigen Namibia. Dort wurden Herero und Nama gefoltert und umgebracht.

Im Roman wird über eine Strasse gestritten, die nach dem Kolonialverbrecher Hermann von Wissmann (1853–1905) benannt ist. Gibt es diese Strasse?

Es gibt sie noch und es gibt noch viele Strassen, die nach Kolonialverbrechern benannt sind. Die Universität Düsseldorf hat im Auftrag der Stadt die Strassennamen überprüft und in zehn Fällen Umbenennungen empfohlen, auch im Fall der Wissmann-Strasse. Keine Strasse wurde umbenannt. Dabei wurden zum Beispiel nach dem Mauerfall ganze Städte umbenannt. In den Achtzigerjahren gab es in Düsseldorf sogar noch eine Debatte darüber, ob man die Universität nach dem Dichter Heinrich Heine bezeichnen dürfe, weil Heine ein Jude gewesen ist.

 

«Wir alle unterschätzen, wie verletzlich wir im Internet sind.»

 

Intoleranz gibt es auch bei Leuten, die für mehr Toleranz eintreten. Warum?

Ich fände eine innerlinke Debatte darüber, wie wir konstruktiv Kritik üben, sehr produktiv. Es gab ja auch mal einen Versuch von einer feministischen Gruppe, mich zu canceln. Redaktionen wurden aufgefordert, mir keine Aufträge mehr zu erteilen.

Wie gehen Sie mit so was um?

Im Moment war es erschreckend, und ich habe gemerkt, dass ich eine Weile inhaltlich vorsichtiger wurde. In der Form bin ich seither behutsamer und höflicher geworden. Wir alle unterschätzen, wie verletzlich wir im Internet sind.

Gibt es unterschiedliche Intensitäten von Diskriminierung für Schwarze und People of Color?

Ich habe in Deutschland noch nie jemanden angetroffen, der sagt, es gebe eine Opferolympiade. Aber ja, es lebt sich anders, wenn man zumindest einen weissen Elternteil hat. Es ist einfacher auf der Wohnungssuche oder in der Schule. Meine weisse Mutter hat einst protestiert, weil ein Lehrer am Gymnasium mich nicht zum Elternabend zulassen wollte mit der Begründung, ich könne wohl nicht genügend Deutsch. Das war ziemlich absurd. Denn wie hätte ich es sonst ans Gymnasium schaffen sollen?

Stichwort Schulen. Wieso gibt es so wenig Diversität an höheren Schulen?

Das ist die Folge einer Form von strukturellem Rassismus. Die grossen Verlierer des Schulsystems sind migrantisch markierte Jungs. Und Kinder mit Armutsproblem in der Familie. Es darf nicht passieren, dass Menschen strukturell ausgeschlossen werden, wenn wir keine Parallelgesellschaften wollen.
 


*Mithu Sanyal ist im Ruhrgebiet aufgewachsen und hat in Düsseldorf studiert. Ihre Mutter ist Polin, ihr Vater stammt aus Indien. Ihre Bücher «Vulva» und «Vergewaltigung» sorgten für zum Teil heftige Debatten. «Identitti» ist ihr erster Roman. Das Gespräch erschien am 2. Oktober 2021 als doppelseitiges Samstagsinterview in der Zeitung «Der Bund». 

Das Interview erschien am 2. Oktober 2021 in der Zeitung «Der Bund». 

Am 16. September hielt Mithu Sanyal im Innenhof des Berner Generationenhaus eine «Rede zur Lage der Generationen». Einen Überblick zu dieser Reihe finden Sie hier.

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