Den Jungen wird vorgeworfen, Party auf Kosten der Risikogruppen zu machen. Was halten Sie von diesem Vorwurf?

Gegenüber vielen Jugendlichen ist der Vorwurf sicher berechtigt. Pauschalisierungen helfen aber nicht weiter. Die Mehrheit der Jugend war im Lockdown sehr solidarisch und musste viel zurückstecken.

Dafür gab es ja auch Lob. Aber nun infizieren sich vor allem Junge.

Viele junge Menschen haben Mühe, die Massnahmen zur Eindämmung des Virus zu akzeptieren. Trotzdem kann man nicht sagen, die Jungen an sich würden die Regeln nicht mehr befolgen. Es gibt in allen Gruppen Personen, die sich den Massnahmen verweigern. Ich würde eher zwischen vernünftigen und unvernünftigen Menschen unterscheiden.

Wie vernünftig ist denn Ihr Umfeld?

Am Ende des Lockdown gab es schon eine gewisse Ungeduld. Zurzeit gibt es viele Diskussionen über Geburtstage, Verlobungspartys und Hochzeiten. Viele hoffen, dass ihr Fest noch möglich sein wird, obwohl ihnen bewusst ist, dass Feiern mit 300 Teilnehmenden nicht ideal sind. Aber klar: Partys und Feiern sind ein Auslöser für die aktuell steigenden Corona-Fallzahlen.

Wie halten Sie es mit dem Feiern?

Im Sommer habe ich es genossen, Leute draussen zu treffen. Aber jetzt hüte mich davor, mich mit vielen Leuten in geschlossenen Räumen aufzuhalten.

Bei der Klimakrise werfen die Jungen den Alten vor, nicht solidarisch zu sein.

Man kann die beiden Krisen nicht miteinander vergleichen. Die Klimakrise ist eine viel umfassendere Krise. Und die ältere Generation ist verantwortlich dafür, dass der Planet auch für die kommenden Generationen noch bewohnbar ist. Keine Generation hat das Recht, die Ressourcen aufzubrauchen.

Der Ressourcenverschleiss nimmt aber nach wie vor zu. Kaum ein Land dürfte die Klimaziele von Paris erreichen.

Deshalb kämpft die Fridays-for-Future-Bewegung ja auch dafür, dass die Klimakrise ernst genommen wird. Leider ist das bisher nicht wirklich gelungen. Am Anfang war nicht das Klima, sondern das Schwänzen des Unterrichts ein Thema. Jugendliche wurden von älteren Politikern sogar regelrecht beschimpft. Dabei hat die Corona-Krise gezeigt, dass auch einschneidende Einschränkungen unseres Verhaltens rasch möglich sind.

Wird die Klimajugend heute ernst genommen?

Nicht genug. Der Fokus liegt auf der Corona-Krise. Die Corona-bedingte Wirtschaftshilfe wurde kaum an die Einhaltung klimafreundlicher Bedingungen geknüpft. Das ist sehr schade. Die Chancen wurden verpasst, der Jugend zu zeigen, dass man sie ernst nimmt.

In Hessen protestieren junge Menschen, weil ein Wald einer Autobahn weichen soll. Die Entscheide sind längst gefallen. Hier Protest, da Realpolitik. Ein klassischer Konflikt?

Ja. Aber vielleicht ist das auch ein Beispiel dafür, dass man junge Menschen mehr in politische Entscheide mit einbeziehen sollte. Jüngere Menschen denken an die Zukunft und nicht bloss an die nächste Legislatur wie das bei Politikern oft der Fall ist.

 

«Bei US-Wahlen habe ich mich bisher immer unfassbar jung gefühlt.»

 

Die Worte des Jahres in der Deutschschweiz 2019 waren unter anderem «Klimajugend» und «Ok Boomer». War 2019 eine Wende in der Beziehung zwischen den Generationen?

Im letzten Jahr wurde die Jugend zweifellos stärker – oder zumindest jener Teil, der auf die Strasse ging. Aber das hat sich durch Corona bereits wieder relativiert. In Deutschland haben Jugendliche in einer Online-Abstimmung soeben das englische Wort «lost» für «verloren» und «orientierungslos» zum Jugendwort des Jahres gekürt.

Wie erklären Sie sich das?

Die Pandemie hat alles infrage gestellt. Der eben noch diskutierte Fachkräftemangel ist kaum mehr ein Thema. Die Zukunftsaussichten auf dem Arbeitsmarkt sind düster, was vor allem junge Menschen betrifft. Selbst die Schule konnte nicht mehr stattfinden.

Sie beschreiben die Generation Y auch ohne Corona als ziemlich verzweifelt. Was heisst überhaupt Generation Y?

Die Kennzeichnung durch Buchstaben zeigt, dass man eigentlich gar nicht weiss, was die Generation der zwischen 1985 und 2000 Geborenen ausmacht. Meine Schwester ist fast zehn Jahre jünger als ich. Ihr Jahrgang ist sehr viel selbstbewusster als meiner. Trotzdem gehören wir beide zur Generation Y.

Sie machen die Generation Y am Brexit, an der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten und am Einzug der AfD in den Bundestag fest. Trump ist vielleicht bald weg, und die AfD zerlegt sich selber. Alles halb so schlimm?

Das wäre schön. Trump und die AfD haben die Gesellschaft weiter gespalten. Mit einer Abwahl sind die Gräben nicht einfach verschwunden.

Zwei Greise kämpfen um die US-Präsidentschaft. Wie kommt das bei Ihnen an?

Bei US-Wahlen habe ich mich bisher immer unfassbar jung gefühlt. Aber die Kandidatur von Bernie Sanders zeigt doch, dass auch ein 76-Jähriger zum Idol der Jugend werden kann.

Ist das nicht grotesk?

Offenbar hat Sanders bei jungen Menschen gepunktet, weil er weiter denkt als für die nächsten vier Jahre. Sanders überlegt sich, wie die Gesellschaft der Zukunft aussehen soll. Diese langfristige Perspektive vermissen viele junge Menschen in der Politik.

Ihr Buch heisst «Macht Platz!». Sie machen der Generation Sanders klar, dass sie das Feld räumen muss.

Ich stelle fest, dass es in der institutionellen Politik keine Bewegung gibt – weder bei der Zusammensetzung von politischen Gremien noch bei den Ideen.

 

«Ein Schüler hat wohl eine grössere Ahnung von Schule als ein Politiker.»

 

Sie beschreiben die Ära Merkel als Agonie. Kommt nach Merkels Rücktritt 2021 der grosse Aufbruch?

Meine Generation kennt kaum etwas anderes als eine Bundeskanzlerin Angela Merkel. Es ist eine Art Gewohnheits-Komfort. Aber die Welt verändert sich. Und da geht es einfach nicht, wenn die Politik am Status quo festhält und immer nur auf Neues reagiert, wenn es schon zu spät ist.

Was versprechen Sie sich von der Zeit nach Merkel?

In der Regierung müssen alle Lebenswelten vertreten sein. Es braucht mehr Leidenschaft und Lust, etwas zu gestalten und nicht bloss zu verwalten. Menschen, die seit Ewigkeiten an ihren Stühlen kleben, sollten Platz machen. Es ist doch verrückt, dass es so wenige unter 45-Jährige in der Politik gibt.

Erfahrung zählt weniger für Sie?

Wie definiert man denn Erfahrung? Ein Schüler hat wohl eine grössere Ahnung von Schule als ein Politiker, der seit dreissig Jahren kein Schulhaus mehr betreten hat.

Was tun? Braucht es Jugendquoten?

Eine Jugendquote und eine regelmässige Ämterrotation wäre auf jeden Fall sinnvoll, etwa bei der Besetzung von Parteiämtern. Junge Menschen haben in Parteien oft kaum Chancen, weil Posten oft seit Jahrzehnten gleich besetzt sind.

Jungparteien sind in der Regel mit einem Vertreter im Vorstand der Mutterpartei vertreten.

Das ist zu wenig. Aber Parteien sind ohnehin furchtbar starr. Viele junge Leute haben schon ein Problem, regelmässig an den Sitzungen von Lokalsektionen teilzunehmen. Sie organisieren sich lieber in Initiativen, weil die flexibler sind und man mehr mitgestalten kann.

In der Schweiz wird das Stimmrechtsalter 16 wieder zum Thema. Was halten Sie davon?

Es braucht keine Altersgrenze. Ich bin für ein Wahlrecht für alle.

Ein Wahlrecht für Kinder?

Ich weiss, da sehen alle gleich den Zweijährigen ins Wahllokal robben, der mit dem Schnuller im Mund einen Spuckefaden quer über den Wahlzettel zieht, bevor er ihn zerreisst. Es geht aber nicht darum. Es geht darum, dass Kinder und Jugendliche selber entscheiden können, wann sie ihr Stimm- und Wahlrecht ausüben wollen. Sie könnten auf Antrag ihre Unterlagen abholen.

Politologen sagen, dass die Eltern ihre Kinder beeinflussen könnten.

Mit derselben Argumentation könnte man auch einem 90-Jährigen das Wahlrecht verweigern, weil die Angehörigen seinen Zettel ausfüllen könnten. Man kann das Stimm- und Wahlrecht nicht am Alter festmachen. Es gibt ja auch keine Eignungsprüfung dafür. Wer sagt denn, dass ein 60-Jähriger mehr über Politik weiss als ein 16-Jähriger?

 

«Man kann das Stimm- und Wahlrecht nicht am Alter festmachen.»

 

Ein Argument im Berner Kantonsparlament lautete, dass 16-Jährige kaum über Millionenkredite im Bauwesen befinden könnten. Sie dürften ja auch keinen Schnaps kaufen.

Das ist eine eigenartige Gegenüberstellung. Auch 16-Jährige können beurteilen, ob ein Bauprojekt sinnvoll ist oder nicht. Zudem geht es in Parlamenten nicht immer um Bauvorhaben. Es geht ja auch um Bildungs- oder Gesundheitspolitik. Ein 16-jähriger Mittelschüler, dessen Grossmutter im Altersheim lebt, verfügt auch über einen Erfahrungsschatz.

Die Bedenken gegen eine Senkung des Stimm- und Wahlrechts werden oft von Bürgerlichen formuliert. Wie ist das zu erklären?

Ich weiss es nicht. Aber ich habe beobachtet, dass Jugendliche sich selber oft nicht zutrauen, wählen zu gehen. Ich war an einem Simulationsspiel im Bayerischen Landtag dabei, an dem Fraktionen nach Alter gebildet wurden. Die Fraktion der U-15-Jährigen fand selber, dass sie vielleicht noch zu unerfahren sei, um das Wahlrecht auszuüben.

Wie ist diese Scheu erklärbar?

Den jungen Menschen wird oft so wenig zugetraut, dass sie sich selber kaum mehr etwas zutrauen. Das beginnt schon in der Schule. Man hat Angst, dass es nur noch Pommes und Party gibt, wenn man die Jugendlichen machen lässt. Aber junge Menschen sind verantwortungsvoller und reflektierter, als viele denken.

Die Klimaproteste haben die Vorbehalte vieler Bürgerlicher gegen eine Senkung des Stimmrechtsalters kaum beseitigt. Sie befürchten einen Linksrutsch.

Ich finde es nicht o.k., aufgrund einer Angst eine Gruppe vom Wahlrecht auszuschliessen. Die jungen Menschen müssen am längsten auf diesem Planeten leben. Vielleicht sollten sich die Gegner einer Senkung des Stimmrechtsalters fragen, warum ihre Partei bei den Jungen nicht ankommt.

Ist die Jugend wirklich so links?

Nein. Man sieht vor allem die Klimaproteste, und dabei kann dieser Eindruck entstehen. Aber das Wahlverhalten von Jungwählern ist genauso heterogen wie das von Erwachsenen. Zudem sind die meisten jungen Menschen nicht politisch engagiert, weil sie merken, dass ihre Themen kaum vorkommen. Das ist nicht gut für die Zukunft der Demokratie.

Die Gesellschaft wird immer älter. Ist die Bereitschaft der Jungen noch vorhanden, die Renten der Boomer zu sichern?

Der Generationenvertrag wurde bisher nicht infrage gestellt. Aber wenn sich in der Klimafrage nicht mehr bewegt, wird die Bereitschaft junger Menschen zur Sicherung der Renten sicher nicht grösser.
 


*Madeleine Hofmann (1987) ist Botschafterin der Stiftung Generationengerechtigkeit und arbeitet als freie Journalistin in Berlin. 2018 erschien ihr Buch «Macht Platz!». Darin beschäftigt sie sich mit Vorurteilen gegenüber der Jugend, mit der Dominanz der Alten in der Politik und mit Vorschlägen für eine bessere Vertretung der Jungen in allen gesellschaftlichen Bereichen.

Das Interview erschien am 17. Oktober 2020 in der Zeitung «Der Bund». 

Am. 15. Oktober 2020 hielt Madeleine Hofmann gemeinsam mit Ludwig Hasler im Theatersaal des National Bern eine «Reden zur Lage der Generationen» über Ideen für ein gutes langes Leben. Organisiert wurde die Veranstaltung vom Berner Generationenhaus. Einen Überblick zu dieser Reihe finden Sie hier.

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