Viele Schweizer und Schweizerinnen schauen besorgt in die Zukunft, laut Generationen-Barometer 2021 fehlt ihnen Hoffnung. Der deutsche Soziologe Harald Welzer sagt, es sei arrogant, pessimistisch zu sein. Und nennt Beispiele, die Zuversicht geben.
Herr Welzer, wofür leben die Menschen?
Für das Leben selbst. Jenseits des Lebens gibt es keinen Sinn. Leben bedeutet, mit Kindern, Tieren, anderen Menschen zu tun zu haben. Wenn wir über menschliches Leben sprechen, ist nichts vorbestimmt. Mit jedem Menschen, mit jeder Generation, die hinzukommt, kommt etwas Neues, Eigenes hinzu.
Das aktuelle Generationen-Barometer offenbart ein Hoffnungsdefizit: 62 Prozent der befragten Personen blicken eher pessimistisch in die Zukunft. Was sagt das über unsere Gesellschaft?
Eine solche negative Zukunftssicht zeigt sich auf vielen verschiedenen Ebenen. Wir haben in unserer Stiftung «futurzwei» eine Studie gemacht, in der wir unterschiedliche Gruppen von Jugendlichen fragten: Wovon träumt ihr? Die konnten mit dieser Frage kaum etwas anfangen, weil sie sich nichts Positives von der Zukunft erhofften.
Überhaupt nichts?
Die Jugendlichen unterhielten sich in Gruppen über diese Frage. Und immer, wenn jemand ansetzte und sagte: «Ich könnte mir vorstellen, dass …», unterbrach jemand und sagte: «Aber das ist doch Quatsch, das geht gar nicht. Da kommt doch der Klimawandel.» Daran zeigt sich der paradoxe Effekt, dass wir seit 50 Jahren, also zwei Generationen, den Teufel an die Wand malen, und zwar durchaus berechtigt. Und dass wir dadurch die Zukunft als etwas definieren, das wir besser vermeiden sollten.
Weil alles, das vor uns liegt, nur schlechter werden kann?
Ja. Zukunft wird nicht mehr als etwas verstanden, zu dem man hinstreben soll, wie es in meiner Jugend Ende der 70er-Jahre noch der Fall war. Damals galt die Zukunft als super. Bis auf den drohenden Atomkrieg vielleicht, der dann zum Glück nicht stattgefunden hat. Heutzutage hören wir ständig vom Artensterben und dem Klimawandel, pausenlos gibt es Sendungen dazu. Jetzt haben wir noch die Pandemie. Es ist schwierig, in der aktuellen Situation Optimismus zu finden. Eine positive Zukunftserzählung wäre aber total notwendig.
Ist sie auch möglich?
Davon bin ich überzeugt. Wir müssen anders kommunizieren. Wir müssen die Zukunft nicht mehr als etwas vermitteln, das sich verschliesst. Sondern als etwas, das sich öffnet. Der Umstand, dass wir im Jetzt massive Probleme haben, bedeutet doch bloss, dass wir diese Probleme lösen sollten und sich in der Gesellschaft vieles verändern müsste. Wir brauchen eine bessere Form des Lebens, einen besseren Umgang mit Ressourcen und den Mitmenschen. Hier ist ganz vieles denkbar. Man kann aber nur aktiv werden, wenn man glaubt, dass es sich lohnen wird. Wenn man glaubt, dass es eine Zukunft gibt.
Bräuchte es eine Art Instanz, die den Menschen den Glauben an die Zukunft vermittelt?
Es gibt schon viele Menschen, in grossen und kleinen Gruppen, die anders bauen, anders leben. Es gibt zahllose Projekte wie Urban Gardening oder neue Konzepte zur Mobilität. Auch in der Schweiz geschieht unheimlich viel. Nur sind diese Ideen medial weniger interessant als die Dinge, die nicht funktionieren. Wir haben objektiv betrachtet viele Probleme. Aber wir haben auch viel mehr Handlungsspielraum als je zuvor. All die Zukunftsprojekte, auch meine Bücher, sind der Versuch, eine positive Zukunftserzählung anzubieten.
Reichen solche kleinen Projekte, um eine ganze Gesellschaft zu überzeugen?
Nehmen Sie das Beispiel Urban Gardening. Vor zwanzig Jahren wusste niemand, was das sein soll. Heute ist es ein globales Grossprojekt – es findet überall statt. Das ist doch nicht klein! Oder die Mobilität: Die Städte Kopenhagen, Barcelona, Paris werden umgebaut, die Autos verschwinden aus den Quartieren. Es geschieht gerade viel.
Ein grosser Teil der Befragten äusserte im Generationen-Barometer die Sorge, dass die Migration infolge des Klimawandels zunimmt.
Es sind sehr spannende Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen: Wie schaffen wir es als moderne, friedfertige, egalitäre Gesellschaft, unter den Bedingungen des Klimawandels das Zusammenleben zu bauen? Wie kriegen wir es hin, dass sich aus den Migrationsbewegungen Vorteile ergeben? Wenn man mit dieser Perspektive auf die Herausforderungen blickt, kommt man weg von der Angst vor dem Neuen, Fremden.
Klingt einfacher, als es ist.
Es braucht einen neuen Fokus: Wenn man etwas Gutes machen kann, dann sollte man es machen. Man sieht dann ja, was daraus entsteht. Wenn ich immer nur denke, dass sich eh nichts verändern wird in meinem Land, oder in der EU, oder in China, dann werde ich es auch nie versuchen.
Wir suchen nach Ausreden, um gar nicht erst aktiv werden zu müssen?
Ja, weil die Gewohnheit so attraktiv ist. Veränderung bedeutet immer Orientierungsdefizit. Wenn ich im Gewohnten bleibe, weiss ich, wie die Sache läuft. Wenn ich beginne, etwas anders zu machen, habe ich weniger Orientierung. Deswegen misstrauen die meisten Menschen der Veränderung.
Knapp die Hälfte der Befragten hat angegeben, sie wolle Gutes tun. Die Leute sehnen sich danach, etwas zum Besseren zu verändern.
Das ist eine riesige Ressource, die sich gesellschaftlich nutzen liesse. Und es ist eine Ressource, die politisch vernachlässigt wird. Die Politik könnte auf einer solchen Bereitschaft aufbauen, stattdessen ist sie mit anderen Dingen beschäftigt. Eine Mehrheit hat in der Schweiz kürzlich Ja gesagt zum Pandemiegesetz. Eine Mehrheit ist also für Einschränkungen. Die Politik kapiert viel zu selten, dass sie mit der Mehrheitsgesellschaft eine starke Bündnispartnerin hätte.
Zu Beginn der Pandemie hiess es: Zusammen schaffen wir es. Der Glaube daran ging schnell verloren. Sind wir zu vereinzelt, um an einer gemeinsamen Erzählung festzuhalten?
Die Erzählung war fatal, weil es von Seiten der Politik hiess: Wir werden in die Normalität zurückkehren. Je schlimmer es wurde mit den weiteren Wellen, desto grösser wurde die Sehnsucht der Leute nach der Normalität. Und je deutlicher die Gewissheit wurde, dass wir nie wieder in die Normalität zurückkehren, desto bedrohlicher wurde der Umstand, der uns an dieser Normalität hindert. Das gemeinschaftsstiftende Element fehlt in dieser Erzählung. Von Welle zu Welle verschwand der Ansatz «Wir machen etwas daraus» – es wurde keine Musik mehr auf Balkonen gespielt, der Applaus für die Pflegenden verebbte.
Stattdessen denken die Leute: Wenn alles vorbei ist, werde ich mir wieder Dinge gönnen.
Die Pandemie hat den Wunsch nach einer Realität verstärkt, die wir doch eigentlich gar nicht mehr haben wollen. Wir leben in einer Konsumgesellschaft, die verspricht, dass man für sein Glück nichts tun muss, sondern alles bestellen und bekommen kann. Politiker und Ingenieurinnen sagen, dass wir uns um die Zukunft nicht sorgen müssen, weil sie sich kümmern. Beides führt zu Passivität und einer Entwertung der eigenen Handlungsmacht. Menschen werden entmächtigt. Stattdessen müsste man ihnen sagen: Hey, das kannst du. Versuch es.
Was ist Ihre Vorstellung von der Zukunft?
Als Beobachter von globalen Entwicklungen sehe ich nicht sehr viel, das mich euphorisch stimmt. Aber wenn ich schaue, was einzelne Leute machen, welche Initiativen es gibt, finde ich es arrogant, pessimistisch zu sein. Man muss unterstützen, was gut läuft. Und man muss darauf bauen, dass daraus etwas entsteht.
Harald Welzer ist deutscher Soziologe und Sozialpsychologe. Er sitzt im Vorstand der Stiftung Futurzwei, die sich für eine enkeltaugliche Gesellschaft einsetzt. Im Oktober 2021 ist Welzers Buch «Nachruf auf mich selbst» erschienen. Er fordert darin eine «Kultur des Aufhörens».
Generationen-Barometer 2021: Was bewegt Jung und Alt? Mit dem Generationen-Barometer 2021 hat das Berner Generationenhaus in Zusammenarbeit mit dem Forschungsinstitut sotomo zum zweiten Mal eine repräsentative Studie zur Lage der Generationen durchgeführt. Es fühlt den Puls der Schweizer Bevölkerung und will einen gesellschaftlichen Dialog über zukunftsfähige Beziehungen zwischen den Generationen anregen.