Frau Häusermann, das Parlament hat im Dezember eine Reform der Altersvorsorge vorgeschlagen. Es ist die insgesamt elfte seit deren Bestehen. Ist die Sanierung des Sozialwerks das politische Generationenprojekt schlechthin?
Die Sicherung der Altersvorsorge ist neben Digitalisierung und Klimawandel sicher eine der zentralen politischen Baustellen des 21. Jahrhunderts. Es war eine ganz grosse sozialpolitische Errungenschaft im 20. Jahrhundert, dass die Altersarmut fast schon überwunden wurde: Durch die Einführung der AHV 1948 und später der Ergänzungsleistungen wurde das Alter als Armutsrisiko enorm reduziert. Nur war die Lebenserwartung 1948 viel tiefer als heute, nämlich knapp 70 Jahre.
Die AHV-Rente musste ursprünglich nur für wenige Jahre nach der Pensionierung reichen.
Genau. Heute stehen wir vor der Herausforderung, dass die Renten etwa ein Viertel einer durchschnittlichen Biographie finanzieren sollen. Dies ist eine ganz neue Dimension und bedingt, dass wir anders über die Altersvorsorge nachdenken müssen.
Im Generationen-Barometer 2021 werden alternative Rentenmodelle diskutiert. Das Modell «Verteilte Arbeitszeit» sieht vor, dass die Arbeitsstunden während der Erwerbszeit reduziert werden, aber das Rentenalter erhöht. Die meisten Befragten sprechen sich gegen dieses Modell aus.
Die Grundfrage im Generationenvertrag lautet: Ab wann hat jemand genug gearbeitet, geleistet und beigetragen und ein Anrecht darauf, im Gegenzug von der Gesellschaft versorgt zu werden? Es gibt verschiedene Lebenszyklen: Den jungen Menschen bis 25, 30 Jahren gewährt man viel Freiheit, sich zu finden. Die gute Ausbildung ist in der Schweiz quasi gratis und wird von der Öffentlichkeit getragen. Ab 30 Jahren beginnt die Phase, in der die Menschen sehr viel liefern. Man trägt die eigenen Kinder, man trägt die Eltern, man arbeitet, entscheidet, übernimmt Verantwortung, bezahlt Beiträge. Ab 60, 70 Jahren beginnt eine dritte Phase, in der man wieder weniger leisten muss.
Eine Phase, in der man von der Gesellschaft Freiheit zurückbekommt?
Ja. Viele Umfragen zeigen, dass ältere Menschen als «most deserving» gelten: Sie haben unsere Solidarität am meisten verdient, weil sie genug geliefert und Anspruch darauf haben, über ihre restliche Zeit frei zu verfügen. Diese Wahrnehmung bleibt, auch wenn die Lebenserwartung steigt und der Arbeitsmarkt sich verändert. Eine drastische Erhöhung des allgemeinen Rentenalters, oder sogar seine Abschaffung wie etwa in den USA, hat in der Bevölkerung kaum Chancen, weil dadurch die Lebensphase des Leistens und Lieferns nach oben geöffnet wird.
Im zweiten Modell «Lebensarbeitszeit» sollen nur jene Personen länger arbeiten, die lange in Ausbildung waren und spät in den Beruf eingestiegen sind. 63 Prozent der Befragten sprechen sich dafür aus.
Das Modell ist sozialpolitisch progressiv, weil es das Rentenalter an die Bildung koppelt. Wir wissen, dass Bildung in der Schweiz stark mit Einkommen und sozialem Status verknüpft ist. Und wir wissen, dass Menschen mit hohem sozialem Status eine höhere Lebenserwartung haben. Die Grundidee des Modells ist: Je höher der soziale Status einer Person, desto länger soll sie arbeiten, denn sie hat in der Regel in jungen Jahren länger von der Solidarität der Gesellschaft profitiert und im Alter gute Chancen, länger gesund zu leben. Die breite Zustimmung der Befragten zeigt, dass viele dieses Modell als gerecht empfinden.
Hätte dieses Rentenmodell im Parlament Chancen?
Theoretisch wäre das gut möglich. Das Modell integriert einerseits die Forderung der bürgerlichen Seite, das Rentenalter zu erhöhen. Andererseits nimmt es eine sozial gut abgestützte Umverteilung vor, wie sie von der linken Seite verlangt wird. Wie viele andere habe auch ich dieses Modell schon als möglichen Hebel erwähnt, um die Debatte über das Rentenalter zu deblockieren. Aber bis heute ist keine Partei darauf eingestiegen.
Warum nicht?
Ich kann nur spekulieren. Aus linker Perspektive würde das Modell bedeuten, dass sie ihre grundlegende Opposition gegen die Erhöhung des Rentenalters aufgeben müssten. Die Linke weiss, dass sie in diesem Punkt zwei Drittel der Stimmberechtigten hinter sich scharen kann, weit über ihren Stimmenanteil hinaus. Das ist ein riesiges Kapital, das die Linke wohl nicht hergeben will.
Und aus bürgerlicher Perspektive?
Die Bürgerlichen werden eher von jenen Leuten gewählt, die gemäss dem Modell länger arbeiten müssten, die also letztlich mit dem Status quo besser fahren. Die Bürgerlichen wissen, dass bei einer Rentenerhöhung für alle de facto vor allem jene Personen länger arbeiten würden, die einen sozial tieferen Status haben. Reinigungspersonal oder Kassiererinnen könnten es sich schlicht nicht leisten, früher in die Pension zu gehen. Gut ausgebildete Leute hingegen schon, sie können flexibler wählen, ob sie bis zum regulären Rentenalter weiterarbeiten oder früher aufhören möchten. Das ist letztlich für sie die vorteilhaftere Lösung.
Die Fronten in der Politik sind verhärtet?
Die Polarisierung zwischen links und rechts hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Die beiden Lager trachten auch danach, einander politische Erfolge zu durchkreuzen. Daran ist auch die Altersvorsorge 2020 vor einigen Jahren gescheitert. Dies erschwert eine konstruktive Debatte.
Machtpolitik verunmöglicht es derzeit, das Rentensystem neu zu denken. Wird dies einer neuen Generation von Politikerinnen und Politikern eher gelingen?
Ich glaube, dass die Idee der Lebensarbeitszeit kommen wird. Wenn man sich anschaut, wie das Bildungsniveau der Bevölkerung ist, sieht man, dass fast die Hälfte der unter 35-Jährigen irgendeine Form der tertiären Bildung abgeschlossen hat. Das allgemeine Bildungsniveau ist enorm gestiegen. Die ganz normale Bürgerin, der ganz normale Bürger ist heute deutlich besser ausgebildet als noch vor ein paar Jahren. Diese Veränderung hat auch Einfluss auf das Verhältnis zum Beruf und zur Arbeit.
Inwiefern?
Die meisten hochqualifizierten Berufe sind anspruchsvoll und kognitiv fordernd, aber auch sinnstiftend, verleihen Autonomie, Zufriedenheit, oft sogar Erfüllung. Der direkte körperliche Verschleiss fällt in vielen Berufen weg, während die emotionale und mentale Bindung an den Beruf verstärkt wird. Je höher qualifiziert ein Job ist, desto eher arbeiten die Leute weiter, auch freiwillig. Sie identifizieren sich mit dem Beruf. Gemäss Generationen-Barometer stimmt bereits jetzt die Hälfte der hochqualifizierten jungen Menschen dem Modell «Lebensarbeitszeit» zu – also jene Personen, die vom höheren Rentenalter direkt selber betroffen wären.
Das Bildungsniveau in der Bevölkerung wird weiter steigen. Wird auch die Zustimmung für die Lebensarbeitszeit wachsen?
Ich denke schon, weil die Lösung des neuen Modells eher kommunizierbar wird. Man kann dann sagen: Die Gesellschaft hat euch eine gute Ausbildung ermöglicht, die euch eine spannende, sinnstiftende Arbeit erlaubt. Dafür müsst ihr länger erwerbstätig bleiben. Diese Botschaft ist einfacher zu vermitteln, als wenn Menschen aufgefordert werden, noch mehr Erwerbsjahre anzuhängen, nachdem sie durch Routinearbeit, körperliche Arbeit oder schlechte Arbeitsbedingungen mürbe geworden sind. Dies erscheint vielen Leuten eher als ungerecht – auch jenen, die nicht davon betroffen sind.
Wie bald wird eine neue Debatte über die Altersvorsorge möglich sein?
Im Moment sind wir mitten in einem verhärteten Konflikt, aber ich denke, dass in weniger als 10 Jahren neue, grundlegendere Diskussionen geführt werden können. Die Linken haben das Referendum gegen die Angleichung des Rentenalters der Frauen ergriffen. Es wird interessant sein zu sehen, ob die Wählerinnen und Wähler die Erhöhung wirklich ablehnen. Denn selbst eine Mehrheit der linken Wählerinnen und Wähler sind gemäss Umfragen nicht mehr stark dagegen. Die Skepsis der bürgerlichen Wählerschaft gegenüber der allgemeinen weitergehenden Erhöhung des Rentenalters wird nach wie vor stark sein.
Was bedeutet dies?
Es bedeutet, dass es bei der Diskussion über die Altersvorsorge bald nicht mehr darum gehen kann, ob es eine Erhöhung des Rentenalters geben soll. Sondern darum, auf welche Art und für wen das Rentenalter erhöht werden muss. Dann wären neue Lösungen gefragt.
Silja Häusermann ist Politikwissenschaftlerin und Professorin. Sie leitet den Lehrstuhl für Schweizer Politik und Vergleichende politische Ökonomie am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich und ist Institutsvorsteherin. Zu Häusermanns Forschungsschwerpunkten gehören vergleichende Wohlfahrtsstaatenforschung, vergleichende politische Ökonomie, Renten- und Familienpolitik.
Generationen-Barometer 2021: Was bewegt Jung und Alt? Mit dem Generationen-Barometer 2021 hat das Berner Generationenhaus in Zusammenarbeit mit dem Forschungsinstitut sotomo zum zweiten Mal eine repräsentative Studie zur Lage der Generationen durchgeführt. Es fühlt den Puls der Schweizer Bevölkerung und will einen gesellschaftlichen Dialog über zukunftsfähige Beziehungen zwischen den Generationen anregen.