Klimawandel, Corona-Pandemie, Einsamkeit: Generationenforscherin Pasqualina Perrig-Chiello sieht in den aktuellen Herausforderungen das Potenzial, dass sich die verschiedenen Generationen näherkommen. Wenn sie anfangen, sich füreinander zu interessieren.
Frau Perrig-Chiello, welche Bedeutung haben Generationen?
Mit der Unterscheidung nach Alter und Generation versucht man zu verstehen, wie unser gesellschaftliches Miteinander funktioniert. Ich halte diese Unterscheidung für sinnvoll. Allerdings hat der Diskurs der Generationen in den vergangenen Jahrzehnten eine neue Wertigkeit bekommen. Die Generationen wurden mit Bedeutung aufgeladen.
Warum?
Die Menschen werden älter, wir leben mittlerweile in einer Vier-Generationen-Gesellschaft. Dies macht das Zusammenleben komplexer. In dieser neuen Realität reichen die Kategorien Jung oder Alt längst nicht mehr. Allerdings distanziere mich von den vielen Labels wie «Generation X, Y, Z». Solche Begriffe sind stark pauschalisierend und verleiten dazu, die einzelnen Generationen gegeneinander auszuspielen.
Weil das Trennende zu sehr betont wird?
Ja. Der Generationendiskurs ist zwar seit jeher von Fragen der Abgrenzung geprägt. Die Jungen wollen sich von der Elterngeneration lösen und ihre eigene Identität bestimmen. Dies geht selten ohne Konflikte. Neu ist, dass durch den gesellschaftlichen und technologischen Wandel das Wissensmonopol der Älteren gekippt wurde. Sie haben nicht mehr so viel Autorität wie früher. Heutzutage sind die jungen Leute gut ausgebildet, können sich im Internet selber Wissen aneignen. Durch die Umverteilung von Wissen begegnen die Jüngeren den Älteren auf Augenhöhe. Sie denken: Ihr könnt es gar nicht besser als wir.
Ein Vorwurf der Jüngeren an die Älteren lautet: Ihr habt uns den Klimawandel eingebrockt.
Wir wissen aus der Forschung, dass der Diskurs über Generationenkonflikte in Krisenzeiten immer aufflammt. Vietnamkrieg, Ölkrise in den 90er-Jahren, Finanzkrise: Bei den Jungen kam jedes Mal eine «No Future»-Stimmung auf, wir erleben sie in der aktuellen Klimakrise wieder. Auch wenn diese Hoffnungslosigkeit nicht neu ist, müssen die älteren Generationen sie anerkennen und etwas dagegen unternehmen, mit ihrer Erfahrung und ihren Möglichkeiten. Es braucht offensichtlich Krisen, damit sich etwas verändert. Wir sehen es bei der Coronakrise: Sie war ein Katalysator für die Generationenbeziehungen.
Was bedeutet das?
Wegen Corona haben wir viel intensiver über die Beziehungen zwischen den Generationen nachgedacht. Es gab grosse Solidarität zwischen den Generationen, zumindest im engeren Umfeld, der Nachbarschaft. Die Generationenbeziehungen im Privaten funktionieren wirklich gut.
Aber?
Auf gesellschaftlicher und auch medialer Ebene wurde klar, wie negativ unsere Altersbilder sind. Der Tenor war, dass man sich wegen ein paar Hochbetagten nicht einschränken will, dass schliesslich niemand ewig leben könne. In der zweiten Welle kamen die Jungen dran, von denen es hiess, die würden ständig in den Ausgang gehen, egozentrisch und unvernünftig handeln. Die verschiedenen Generationen wissen schlicht zu wenig voneinander, darum sind sie in ihrer Beurteilung so pauschal.
Das aktuelle Generationen-Barometer zeigt, dass das gesellschaftliche Bewusstsein für die Bedürfnisse von Teenagern und jungen Erwachsenen im zweiten Pandemiejahr zugenommen hat. Sehen Sie darin eine Annäherung?
Ja, ich glaube, dass die Pandemie auch eine Chance war, sich besser kennenzulernen. Man hat gemerkt, dass die Vulnerabilität durch Alters- und Gesellschaftsgruppen geht. Die Frage ist, wie nachhaltig dieses neue Bewusstsein ist.
Die Befragten gehen eher davon aus, dass sich die Folgen der Pandemie negativ auf das Generationenverhältnis auswirken.
Man weiss von Untersuchungen, dass der positive Effekt der Pandemie mittelfristig ist. Damit er länger anhält, muss man den Generationendiskurs weiterhin führen und sich mit den verbreiteten Generationenbildern auseinandersetzen. Mich besorgen jene knapp 50 Prozent der Befragten, die sich weder positive noch negative Folgen für das Generationenverhältnis vorstellen können.
Warum?
Weil sie keine Meinung haben. Sie haben keine Ahnung, wie die anderen Generationen leben, und es interessiert sie auch nicht.
Vergessen ältere Menschen, dass sie einmal jung gewesen sind, und verdrängen junge Menschen, dass sie einmal alt sein werden?
Auch. Vor allem fehlen ihnen die Informationen darüber, wie es den anderen geht. Erst mit diesem Wissen kann man empathisch sein und die Perspektive der anderen einnehmen. Generationenübergreifende Projekte sind deshalb so wichtig, weil sie einen Austausch anregen. Ich denke zum Beispiel ans Generationenwohnen, dem Zusammenleben verschiedener Generationen unter einem Dach.
Für die meisten ist diese Art von Zusammenleben keine Option, wie das Generationen-Barometer zeigt. Sie bevorzugen das Leben mit dem Partner oder in der Kernfamilie.
Die Kernfamilien werden aber kleiner und fragiler, die gesellschaftlichen Ansprüche an sie immer grösser. Vermehrt arbeiten beide Elternteile. Die Familien sind auf externe Kinderbetreuung angewiesen. Die Anzahl Kinderloser und Alleinlebender nimmt stark zu. Im Falle von Pflegebedürftigkeit ist Hilfe von Angehörigen in Zukunft nicht mehr garantiert. Durch Corona hat sich gezeigt, dass wir mit dieser Entwicklung an einem Kipppunkt angelangt sind: Viele Menschen vereinsamen, werden krank. Suizid und Einsamkeit gelten als Pandemien der Zukunft. Generationenübergreifende Projekte könnten dem entgegenwirken. Die Älteren können auf die Kinder der jungen Familien aufpassen, die Jüngeren für die Älteren die Einkäufe erledigen. Die Generationen würden von den Ressourcen der jeweils anderen profitieren.
Was sich die Jüngeren von den Älteren vor allem wünschen: Dass sie die Infrastruktur weniger zu Stosszeiten nutzen, dass sie in kleinere Wohnungen ziehen, wenn der Nachwuchs ausgeflogen ist. Die Alten sollen also Platz machen.
Dies ist verständlich und wird von vielen älteren Menschen auch so gemacht. Die Statistiken zu den Verkehrswegen zeigen auch klar, dass die Älteren Stosszeiten vermeiden. Jene alten Menschen, die im Feierabendverkehr unterwegs sind, fallen umso deutlicher auf. Aber wer hat schon das Recht, es ihnen zu verbieten? Immer mehr Senioren übergeben ihre Häuser den Kindern und ihren Familien. Generativität ist nachweislich ein zentrales Anliegen im Alter: die Sorge für die kommenden Generationen. Was mit zunehmendem Alter glücklich macht, ist, für die Nachkommen nützlich zu sein.
Der Blick der jüngeren Generationen ist weniger positiv: Sie glauben nicht mehr an das Generationenversprechen, wonach jede neue Generation bessere Lebensbedingungen vorfindet.
Generationenversprechen? Wenn damit gemeint ist, dass ältere Generationen für die nachfolgenden nur das Beste wollen, ist dieses Versprechen in den Familien immer noch Realität. Dem steht aber eine Wirtschaft gegenüber, bei der es einzig um Wachstum und Gewinnmaximierung geht. Wir müssen die Solidarität hochhalten. Das Leben ist komplizierter geworden, es gibt immer mehr Menschen, die immer weniger Ressourcen miteinander teilen müssen. Wir sollten die sozialen Ungleichheiten thematisieren, statt immer nur über die Unterschiede der Generationen zu sprechen.
Was ist den Generationen gemein?
Die Sehnsucht nach Nähe, Zugehörigkeit und einer sinnfüllenden Aufgabe in der Gesellschaft. Und jede Generation will, dass es der Generation ihrer Kinder und Kindeskinder gut geht.
Pasqualina Perrig-Chiello ist Entwicklungspsychologin und Psychotherapeutin. Sie ist emeritierte Professorin der Universität Bern und leitet dort die Seniorenuniversität.
Generationen-Barometer 2021: Was bewegt Jung und Alt? Mit dem Generationen-Barometer 2021 hat das Berner Generationenhaus in Zusammenarbeit mit dem Forschungsinstitut sotomo zum zweiten Mal eine repräsentative Studie zur Lage der Generationen durchgeführt. Es fühlt den Puls der Schweizer Bevölkerung und will einen gesellschaftlichen Dialog über zukunftsfähige Beziehungen zwischen den Generationen anregen.