Die Klimakrise, die Rentenfrage, die demografische Alterung und aktuell die Pandemiesituation stellen die Beziehungen zwischen den Generationen auf die Probe. Bahnt sich ein Generationenkonflikt an? Nein, sagt Sozialanthropologin und Generationenforscherin Simone Gretler Heusser. Es brauche aber Mut, um wachsende soziale Ungleichheiten mit neuen Ideen zu bekämpfen.
In St. Gallen ist es kürzlich zu Zusammenstössen zwischen Jugendlichen und der Polizei gekommen. Was ist los mit den Jugendlichen?
Die Jungen zahlen in der Coronapandemie einen enorm hohen Preis. Ein Pandemiejahr ist im Alter von 16 wohl einschneidender als im Alter von 70. Viele Jugendliche, die jetzt aus der Schule kommen, haben Mühe, eine Lehrstelle oder einen Praktikumsplatz zu finden. Oder sie schliessen eine Lehre ab und können dann nicht in ihrem Beruf arbeiten. Denken Sie nur an all die Berufsleute im Gastronomiebereich, die nicht arbeiten können, weil die Restaurants geschlossen sind! Viele Jugendliche leiden ausserdem unter grossem psychischem Druck und bekommen, weil wir im Bereich der Jugendpsychiatrie unterversorgt sind, nicht immer die Hilfe, die sie bräuchten. Und trotzdem erlebe ich die allermeisten jungen Menschen als rücksichtsvoll, gut informiert und zurückhaltend. Ich kann nicht genug betonen, wie dankbar wir als Gesellschaft den jungen Menschen sein sollten!
Und langfristig – wie wirkt sich die Coronapandemie auf die jungen Menschen aus?
Viele Jugendliche schauten schon vor der Pandemie bange in die Zukunft. Sie haben Angst um den Planeten und beobachten die Globalisierung mit Sorge. Die Pandemie verstärkt diese Ängste zusätzlich. Das müssen wir ernst nehmen. Die Jungen werden einen grossen Teil der finanziellen Folgen der Pandemie zu tragen haben. Und wir haben ja auch ein Rentenproblem. Schon heute haben junge Menschen eine schlechte Ausgangslage bezüglich ihrer Altersvorsorge, und diese Situation dürfte sich mit der Coronapandemie nochmals verschärfen.
Die Befragung für das Generationen-Barometer 2020 im vergangenen September ergab, dass in der Schweiz kein eigentlicher Generationenkonflikt wahrgenommen wird. Die Befragten sahen eher die Gefahr, dass die Schweiz zwischen Arm und Reich, Stadt und Land oder Rechts und Links auseinanderdriftet. Hat die Coronapandemie seither etwas daran verändert und einen Konflikt zwischen den Generationen befeuert?
Ich sehe viel Hoffnung und wenig Gefahren. Zwar stellt die Coronapandemie das Verhältnis der Generationen auf die Probe, weil alle unterschiedlich betroffen sind. Sie hat aber auch zu grosser Solidarität geführt, gerade auch von jungen Menschen. Ich gehe daher nicht davon aus, dass sich der Generationenkonflikt verschärft – wohl aber die Diskussion über soziale Gerechtigkeit. Wir müssen im Interesse aller nach Lösungen suchen, wie die Folgen der Pandemie und die Altersvorsorge möglichst gerecht finanziert werden können. In der Schweiz und auch global gesehen haben soziale Ungleichheiten mit der Pandemie zugenommen, und dies trotz punktuellen Solidarbekundungen wie der CoVax-Initiative, deren Ziel es ist, auch die ärmeren Länder mit Impfstoff zu versorgen.
Dass die Altersvorsorge immer mehr in finanzielle Schieflage gerät, ist schon lange bekannt. Die Jungen gehen bislang aber lieber für die Klimaproteste auf die Strasse und nicht für die AHV. Warum?
Sie nehmen die Altersvorsorge als weniger bedrohlich war. Gerade die Pandemie zeigt ihnen, dass der Sozialstaat einigermassen funktioniert. Natürlich ist es schrecklich, wenn jemand seinen Job verliert. Es geht aber niemand komplett verloren. Wir sind in einer ganz anderen Situation als Menschen in anderen Staaten, und das gilt auch für die Altersvorsorge. Der Klimawandel hingegen ist eine existentielle Bedrohung für die ganze Menschheit, und das spüren die jungen Menschen intuitiv. Verglichen mit dem Klimawandel ist die Altersvorsorge in ihren Augen eher ein Luxusproblem. Und diese Wahrnehmung ist ganz rational und realistisch.
Bei Klimaprotesten werden junge Menschen oft belächelt. Müssten die Älteren sie ernster nehmen?
Ich denke tatsächlich, dass die Anliegen von jungen Menschen zu wenig ernst genommen werden – nicht erst seit der Klimakrise oder der Pandemie. Zwar sind junge Menschen in heutigen Parlamenten etwas besser vertreten als früher, aber deren Zusammensetzung ist noch längst nicht repräsentativ für die Bevölkerung. Das sieht man nur schon, wenn man die Stimmbeteiligung anschaut: Gut gebildete, ältere Menschen beteiligen sich viel öfter an Wahlen und Abstimmungen, die Jüngeren sind im politischen System untervertreten. Das ist paradox: In der Schweiz sind wir stolz auf die direkte Demokratie. Aber eigentlich wissen alle, dass nur eine kleine Minderheit wirklich mitreden kann.
Müsste also das Stimmrechtsalter von 18 auf 16 gesenkt werden? Die zuständige Kommission des Ständerates hat diesem Vorhaben im Februar etwas überraschend zugestimmt.
Auch für mich was dieser Entscheid eine Überraschung. Er ist ein positives Signal – vielleicht ist der demografische Wandel tatsächlich ein Stück weit angekommen in den Köpfen der Menschen. Allerdings wird eine Senkung des Stimmrechtsalters allein nicht reichen. Wenn wir von den jungen Menschen tatsächlich mehr Stimmen hören wollen, müssen wir ihnen von klein auf beibringen, sie zu nutzen. Wir müssen ihnen Möglichkeiten für echte Mitwirkung bieten und einen Austausch mit anderen Generationen anregen, der für alle Beteiligten eine Bereicherung ist. In der Schweiz ist die politische Partizipation von Kindern entwicklungsbedürftig.
Sehen Sie hier auch die Schulen in der Verantwortung?
Das ist ein wichtiger Punkt. Studien zeigen auf, dass Kinder sehr viel partizipieren in der Schweiz. Sie bestimmen zum Beispiel mit, welches Auto die Eltern kaufen sollen oder welches Essen gekocht wird. Aber wenn es um die politische Mitwirkung geht, hinkt die Schweiz anderen Ländern hinterher. In der Schule spielt sie kaum eine Rolle, vor allem wenn Kinder und Jugendliche keine weiterführende Schule besuchen. Dabei wäre es wichtig, sie zu «Bürgerinnen» und «Bürgern» im Sinne der «Citoyenneté» oder der «Citizenship» zu erziehen, ihnen also aufzuzeigen, dass jede und jeder ein Teil der Gesellschaft ist und mitreden kann. Hierfür ist die Schule ein wichtiger Ort. Für die Schulen soll das nicht noch mehr Aufwand bedeuten, es geht eher darum, das Bewusstsein zu schärfen und eine Haltung zu entwickeln.
Beim Generationen-Barometer 2020 war die Zustimmung für eine Senkung des Stimmrechtsalters von 18 auf 16 gering, sogar bei den jungen Erwachsenen. Woran kann das liegen?
Vielleicht war das Interesse noch zu gering. Ich hoffe, der Entscheid der Ständeratskommission ändert das. Er ist eine Chance, jetzt auf die jungen Menschen zuzugehen, zum Beispiel über Jugendverbände oder die offene Jugendarbeit, die in der Schweiz sehr gut organisiert sind. Sie könnten Hand bieten, um neue Formate zu entwickeln, die jungen Menschen mehr Mitwirkung ermöglichen. In einem hoheitlichen Akt einfach das Stimmrechtsalter zu senken wird nicht viel bewegen – man muss an der Basis arbeiten.
Eine wichtige Rolle im politischen Prozess spielen die Parteien. Allerdings haben sie ein verstaubtes Image. Der deutsche Jugendforscher Klaus Hurrelmann sagt, junge Menschen würden Parteien oft als bürokratische Ungeheuer wahrnehmen und sich deshalb nicht engagieren.
Das betrifft nicht nur junge Menschen. Es gibt generell immer weniger Parteisoldatinnen und -soldaten. Allerdings gibt es viele politisch interessierte Leute. Sie engagieren sich heute lieber für ein Thema als für eine Partei. Das sehen wir bei der Klimajugend – da geht es um ein konkretes Anliegen. Das spricht junge Menschen eher an als ein Parteiprogramm. Die Parteien müssen ihre Strukturen überarbeiten. Es braucht zwar Kontinuität, weil man nicht jedes Problem ad hoc lösen kann. Aber gleichzeitig muss es auch mehr Möglichkeiten geben, seine Stimme situativ und themenorientiert einbringen zu können. Beim Vereinsleben sieht man einen ähnlichen Trend: Die Leute sind nicht mehr ohne Weiteres bereit, einem Verein beizutreten, engagieren sich aber gerne für einzelne Anliegen oder bestimmte Anlässe.
Im Generationen-Barometer 2020 stiess eine politische Reformidee auf breite Zustimmung: nämlich der sogenannte «Gemeinschaftsdienst». Dieser setzt auf eine allgemeine Dienstpflicht für alle jungen Männer und Frauen ab 18 Jahren. Neben Militärdienst könnte zum Beispiel Pflege für ältere Menschen geleistet werden.
Die Idee, dass man mindestens einmal im Leben etwas macht für die Gemeinschaft, finde ich bestechend. Es tut allen Menschen gut, sich auf diese Weise zu engagieren. Und es könnte ein Einstieg für weitere gesellschaftliche Engagements sein oder Teil einer politischen Bildung, über die wir vorhin gesprochen haben. Der Gemeinschaftsdienst würde Möglichkeiten für Begegnungen und Austausch schaffen. Allerdings müsste noch vieles geklärt werden. Wichtig wäre, dass der Gemeinschaftsdienst nicht missbraucht wird, um Geld zu sparen – er dürfte keine qualifizierten Arbeitskräfte ersetzen. Und die Einteilung der Leute in passende Projekte, das «Matching», ist wichtig und anspruchsvoll, das weiss man aus der Freiwilligenarbeit.
Ebenfalls auf grosse Zustimmung stiess die Idee einer «Lebensarbeitszeit», dass also jede und jeder insgesamt gleich lang arbeitet, es aber keine Rolle spielt, wann im Leben dies geschieht.
Das ist absolut das Modell der Zukunft und viel besser, als einfach zu sagen, es müssen alle länger arbeiten, um die Altersvorsorge zu retten. Eine «Lebensarbeitszeit» würde zum Beispiel ermöglichen, dass Eltern sich eine Auszeit nehmen vom Berufsleben, wenn die Kinder klein sind, und dafür länger arbeiten. Allerdings ist die Umsetzung komplex, weil die Ausbildungen, Pensen und andere Faktoren variieren. Klar ist aber, dass wir umdenken müssen. Zuerst arbeiten und dann eine Rente erhalten, das funktioniert langfristig nicht mehr in unserer alternden Gesellschaft.
Nun scheint aber der Weg hin zu Veränderungen sehr lang zu sein in der Schweiz.
Unser politisches System ist träge, und das nervt ja zum Beispiel die Klimajugend. Ich finde es nicht nur schlecht. Eine Demokratie ist nun mal langsamer als eine Diktatur, dafür sind die Entscheide nachhaltiger. Was ich allerdings bedauere ist, dass innovatives Denken in der Schweiz meist als Privatsache angeschaut wird. Wenn etwas gut läuft, wird es dann übernommen. Ich wünsche mir hier ein stärkeres Engagement des Staates.
Müsste der Schweizer Staat sich also noch mehr öffnen für neue Ideen – und in die Gesellschaft der Zukunft investieren, wie es andere tun? Wales zum Beispiel hat eine Kommissarin für künftige Generationen.
«Sich öffnen» ist ein schöner Begriff. Es muss nicht gleich ein neues Departement geschaffen werden, aber es wäre an der Zeit, auch mal mutig zu sein und ein Projekt zu wagen und zu schauen, was sich daraus ergibt. In der Schweiz passiert vieles «bottom-up», also von unten nach oben. Wobei «unten« nicht ganz stimmt – oft sind soziale Initiativen in der Schweiz Mittelstands-Veranstaltungen. Das ist nichts Schlechtes, aber man muss sich bewusst sein, dass längst nicht alle erreicht werden. Impulse könnten durchaus auch einmal «top-down» kommen wie in anderen Ländern – vielleicht würden damit nicht mehr, aber andere Leute erreicht. Ein Beispiel dafür könnte der Entscheid der Ständeratskommission zum Stimmrechtsalter sein: Dieser Entscheid «von oben» könnte an der Basis einiges bewirken. Wenn der Staat nun auch auf die jungen Menschen zugeht, die nicht schon politisiert sind, könnte etwas in Bewegung kommen, was gut wäre für unsere Demokratie.
«Bottom-up» - das Wort passt zur Klimajugend, die an die Regierung appelliert und vehement ein schnelles Umdenken fordert. Nun kommen solche Forderungen aber gerade bei älteren Menschen nicht nur gut an.
Das hat sicher auch mit der Tonalität zu tun. Menschen kommunizieren unterschiedlich. Ältere Klimaaktivistinnen und -aktivisten zum Beispiel suchen vielleicht eher eine Diskussion im Parlament, jüngere besetzen den Bundesplatz, um gehört zu werden. Dass in Protestbewegungen ein rauerer Ton herrscht als im Parlament ist normal und kein Weltuntergang. Wichtig ist, dass ein Dialog möglich ist. Wenn Klimaaktivistinnen und -aktivisten den Bundesplatz besetzen, können sie auf Menschen zugehen und ihr Handeln erklären. Das wirkt anders als eine «kriegerische Besetzung». Anstand und Dialog setzen ein Interesse aneinander voraus, und das ist in der heutigen Zeit nicht immer gewährleistet. Das ist aber nicht ein Generationenproblem, sondern ein Gesellschaftsproblem.
Was leiten Sie daraus ab bezüglich der Zusammenstösse in St. Gallen?
Natürlich muss man die Vorfälle ernst nehmen und darauf reagieren. Repression allein kann aber nicht die Antwort sein. Wichtig ist, als Gesellschaft anzuerkennen, dass die aktuelle Situation für Jugendliche eine riesige Belastung ist. Und dass man versucht, in Kontakt zu bleiben mit ihnen, etwa mithilfe der Jugendarbeit. Die Idee der Jungparteien, die Stimmen der Jugend in der Corona-Taskforce miteinzubeziehen, finde ich beispielsweise eine sehr gute Idee. Wir müssen eine Spaltung zwischen Jung und Alt verhindern. Eine gegenseitige Schuldzuweisung bringt nichts – niemand ist schuld an dieser Pandemie. Und dass wir einander nicht umarmen dürfen, betrifft uns schliesslich alle.
*Simone Gretler Heusser ist Dozentin und Verantwortliche Kompetenzzentrum Generationen und Gesellschaft an der Hochschule Luzern - Soziale Arbeit.
Generationen-Barometer 2020
Was bewegt Jung und Alt? Mit dem Generationen-Barometer 2020 hat das Berner Generationenhaus in Zusammenarbeit mit dem Forschungsinstitut sotomo erstmals eine repräsentative Studie zur Lage der Generationen durchgeführt. Es fühlt den Puls der Schweizer Bevölkerung und will einen gesellschaftlichen Dialog über zukunftsfähige Beziehungen zwischen den Generationen anregen. Für das «Generationen-Barometer 2020» wurden im September 2020 insgesamt 3285 Personen aus der ganzen Schweiz befragt. Die Ergebnisse wurden Anfang November 2020 veröffentlicht.