Stress im Job, Corona-Pandemie, Zukunftspessimismus: Muss man sich Sorgen machen um die Schweizer Jugend? Der Generationenforscher François Höpflinger ordnet die Ergebnisse des Generationen-Barometers 2021 ein und sieht in den Krisen auch eine Chance.
Herr Höpflinger, wie geht es den jungen Menschen in der Schweiz?
Ihre Lebenszufriedenheit ist grundsätzlich gross, gerade wenn man sie mit der Zufriedenheit von Jugendlichen in anderen Ländern vergleicht. Dasselbe gilt für Jugendliche mit Migrationshintergrund, sie sind sozial relativ gut eingebettet. Junge Menschen in der Schweiz schätzen die Beziehung zu ihren Eltern mehrheitlich positiv ein. Sie profitieren von vielen sozialen und kulturellen Angeboten, auch in ländlichen Gebieten, wo das Vereinswesen ausgeprägt ist. Die Pandemie hat hier allerdings vieles stillgelegt.
Das aktuelle Generationen-Barometer zeigt, dass junge Menschen unter den Folgen der Pandemie wesentlich mehr leiden als ältere Menschen. Muss man sich Sorgen machen?
So grundsätzlich lässt sich dies nicht beantworten. Jugendliche, die vor der Pandemie in der Familie gut aufgehoben waren, wurden auch während der Coronakrise von den Eltern gestützt. Für Jugendliche, die eine schwierige Beziehung zu ihren Eltern haben, wurde es während Corona teilweise dramatisch. Sie waren isoliert, litten an Einsamkeit, stärker noch als die sehr alten Menschen.
Wurde das Leiden dieser Jugendlichen rechtzeitig erkannt?
Teilweise. Die Reaktionen waren lokal, manche Gemeinden haben die Nachbarschafts- und Jugendhilfe aufgebaut. Gut war sicher, dass die Schulen in der Schweiz bald wieder öffneten. Schwer hatten es jene Jugendliche, die eine Schnupperlehre suchten und keine Stelle fanden. Oder an die Uni wollten und über Monate zuhause bleiben mussten, allein vor dem Bildschirm. Diese Erfahrung hat viele demotiviert.
Wirkt sich diese Erfahrung auch langfristig aus?
Lange Schulschliessungen wären prekär gewesen. Studien aus den USA und Mexiko, wo die Schulen während eines Jahres geschlossen waren, zeigen, dass entgangene Lerninhalte nicht mehr einzuholen sind. Ich glaube, eine verpasste Schnupperlehre, ein verpasstes erstes Studienjahr lässt sich eher überwinden.
Die 18- bis 35-Jährigen schätzen die Lebensqualität der Elterngeneration höher ein als die eigene. Warum?
Die jungen Menschen sind pessimistisch, was die Zukunft angeht. Sie sorgen sich ums Klima, leiden unter dem Druck in der Arbeitswelt. Die Jugendlichen wissen, dass eine gute Ausbildung keine Garantie mehr ist für eine gute Arbeitsstelle. Ihr erster Job wird nicht ihr letzter sein. Die lineare Karrierevorstellung, die ihre Eltern noch hatten, haben die jungen Menschen nicht mehr.
Ist es allenfalls eine Erleichterung, zu wissen, dass es nicht den einen Weg gibt, sondern Umwege möglich sind?
Für jene, die resilient sind und genug Selbstvertrauen haben, kann dies ein Gewinn sein. Sie kündigen auch einmal, wenn sie keinen anderen Job in Aussicht haben. Vieles ist durchlässiger geworden: Wer mit 12 Jahren den Übertritt ans Gymi verpasst, kann eine Berufslehre machen und später an die Uni gehen. Es gibt heute mehr Möglichkeiten als früher.
Aber?
Für Personen ohne soziale oder finanzielle Ressourcen ist die Vielfalt an Optionen eine Überforderung. Die Pandemieerfahrung hat dieses Gefühl verschärft. In Zeiten der Unsicherheit nimmt die Orientierungslosigkeit zu. Dies betrifft vor allem junge Erwachsene, die am Anfang ihres Berufslebens stehen und denen der Erfahrungsschatz fehlt.
Die Jungen sind zukunftspessimistisch. Fehlt ihnen auch die Hoffnung?
Nicht unbedingt. Man kann pessimistisch sein, was die Gesellschaft angeht, und trotzdem individuelle Hoffnungen hegen. Häufig führt dies dazu, dass sich Menschen auf Traditionen besinnen. Bei Jugendlichen lässt sich seit zwanzig Jahren beobachten, dass sie traditioneller werden. Sie heiraten, sind im Unterschied zur Jugend der 80er-Jahre weniger häufig kinderlos, pflegen religiöse und kulturelle Traditionen.
Leben sie traditioneller, um Halt im Beständigen zu finden?
Auch, ja. Was neu ist: Die älteren Generationen haben binär geprägte Vorstellungen. Sie unterscheiden zwischen politisch links und politisch rechts, traditionell und innovativ, bürgerlich und nicht-bürgerlich. Die jüngeren Generationen haben eine kombinatorische Strategie.
Was meinen Sie damit?
Junge Menschen sind sowohl sehr modern als auch sehr traditionell. Eine junge selbstbewusste Frau hat keine Mühe, ihrem Freund die Socken zu waschen. Es gibt die alten Gegensätze nicht mehr. Es existieren verschiedene Formen von Arbeit, man arbeitet mehr in Teams und probiert aus. Man will nicht mehr nur Familie oder nur Karriere, man will beides. Auch die binäre Vorstellung von Geschlecht hat sich aufgelöst. Das Barometer zeigt es: Die meisten jungen Erwachsenen wollen dereinst mit ihrer Partnerin, ihrem Partner oder in der eigenen Kernfamilie leben. Gleichzeitig glaubt eine Mehrheit, dass nicht-monogame Beziehungen normal und akzeptiert sein werden.
Ist die junge Generation konservativ oder modern?
Sie ist beides. Es zeigt sich auch in der Musik, wo Volksmusik mit Jazz oder Rap kombiniert wird. Die jüngeren Generationen haben gelernt, in der Multioptionsgesellschaft zu leben. Sie kombinieren verschiedene Lebensweisen miteinander, sie verbinden traditionelle mit individuellen Elementen. Die Jüngeren wollen zwar immer noch die ewige Liebe, aber ihre Beziehungsformen sind flexibler geworden.
Die jungen Erwachsenen stellen auch hohe Ansprüche an sich: Sie wollen mehr Rücksicht auf Ältere und Schwächere nehmen, sich stärker politisch beteiligen, weniger fliegen, mehr Freiwilligenarbeit leisten. Warum sind sie so streng mit sich?
Junge Menschen müssen ihre eigene Zukunft gestalten, und diese wird nur besser, wenn auch die Gesellschaft besser wird. Die Jungen sind klimabewusster, aber sie verhalten sich weniger nachhaltig als die Älteren. Ihnen ist diese Diskrepanz bewusst. Im Generationen-Barometer geben sie an, dass sie sich als nachdenklicher empfinden als die Elterngeneration. Dadurch, dass sehr viele junge Menschen gut ausgebildet sind, verfügen sie über mehr kognitive Fähigkeiten, nehmen sich selber differenzierter wahr, erkennen Widersprüche zwischen ihrem Anspruch und ihrem Verhalten.
Die Jungen werden im Generationen-Barometer die «Generation des schlechten Gewissens» genannt.
Sie sind selbstkritisch und problembewusst, sozial kompetent und sensibel. In der Jugendphase will man vieles ausprobieren, macht Dinge zum ersten Mal. Der Verzicht auf einen Flug nach London fällt leichter, wenn man älter und schon öfters nach London geflogen ist. Junge Menschen müssen mehr Idealismus aufbringen als die Alten, um zu verzichten und nachhaltig zu leben. Aber der Hauptfaktor, wie sich ein Mensch verhält, ist nicht dessen Alter.
Sondern?
Der Hauptfaktor ist, ob jemand Kinder hat oder nicht. Vor allem junge Männer mit Kind sind im Vergleich zu jungen Männern ohne Kind bedeutend verantwortungsbewusster, sie setzen sich weniger Abenteuern aus, richten sich mehr auf die Familie aus. Junge Erwachsene wollen für ihre Kinder, dass die Zukunft lebenswert ist. Sie wollen die Zukunft mitgestalten und leben eher nachhaltig.
Die jungen Generationen glauben also daran, mit ihrem Verhalten etwas bewirken zu können.
Der Glaube an die eigene Wirkungsmacht hat zugenommen, weil die jungen Generationen besser ausgebildet sind und über mehr Ressourcen verfügen. In der Schweiz leben wir in einer Gesellschaft, in der junge Menschen mit gemeinschaftlichen Projekten relativ viel bewirken können. Die Individualisierungswelle wird durch solche gemeinschaftliche Strukturen ergänzt. Während der Pandemie gab es in einigen Gemeinden mehr Leute, die helfen wollten, als Leute, die Hilfe beanspruchten. Alle Jungparteien haben in dieser Zeit Mitglieder gewonnen. Es gibt dieses neue Bewusstsein: Jede Person, die sich vernetzt, hat die Möglichkeit, etwas zu verändern.
François Höpflinger ist emeritierter Titularprofessor für Soziologie an der Universität Zürich und Mitglied der akademischen Leitung am Zentrum für Gerontologie der Universität Zürich.
Generationen-Barometer 2021: Was bewegt Jung und Alt? Mit dem Generationen-Barometer 2021 hat das Berner Generationenhaus in Zusammenarbeit mit dem Forschungsinstitut sotomo zum zweiten Mal eine repräsentative Studie zur Lage der Generationen durchgeführt. Es fühlt den Puls der Schweizer Bevölkerung und will einen gesellschaftlichen Dialog über zukunftsfähige Beziehungen zwischen den Generationen anregen.